Wortgeschichte
Sozialer Brennpunkt: Eine neue Bezeichnung für Wohnsiedlungen und -viertel
Seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist eine neue Bezeichnung für Wohngebiete oder Stadtteile, in denen zu sozialer Benachteiligung führende Faktoren überdurchschnittlich oft auftreten, bezeugt: sozialer Brennpunkt (1968a). SozialWGd hat in dieser Wortverbindung die Bedeutung die ökonomische und politische Struktur einer gegebenen Gesellschaft betreffend
.
Brennpunkt ist als Lehnbildung zum neulateinischen punctum ustionis im Deutschen mit der Bedeutung Stelle, an der Lichtstrahlen durch eine konvexe Linse, einen Hohlspiegel und dergleichen gebündelt werden und ihre größte Kraft entfalten
bereits im 17. Jahrhundert bezeugt; seit dem 18. Jahrhundert kann es im auch übertragenen Sinn Zentrum, Mittelpunkt, Sammelpunkt; Ort, an dem etwas konzentriert ist
bedeuten (vgl. 2DWB 5, 785–786). Es ist diese metaphorische Verwendung, von der aus die neue Wortverbindung sozialer Brennpunkt entsteht: Der soziale Brennpunkt ist derjenige Ort, an dem Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, Integrationsschwäche und Ähnliches, die zu sozialer Benachteiligung führen, konzentriert vorkommen.
Frühe Verwendungen lassen die Vermutung zu, dass der Sprachgebrauch von Behörden, Ämtern und Sozialträgern bei der Entstehung der neuen Wortverbindung eine Rolle gespielt haben könnte (1968b, 1971, 1986). Einen expliziten Beitrag zur Prägung und Verbreitung will Ende der 1970er Jahre der Deutsche Städtetag, einer der kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene, mit und in den Hinweise[n] zur Arbeit in sozialen Brennpunkten
liefern – inhaltlich wie sprachlich: Hervorstechendes Merkmal der Hinweise zur Arbeit in sozialen Brennpunkten ist das Neuverständnis des Begriffs
(Deutscher Städtetag 1979, 7). Hier ist auch eine Definition der adressierten Problematik zu finden: Soziale Brennpunkte
Soziale Brennpunkte sind Wohngebiete, in denen Faktoren, die die Lebensbedingungen ihrer Bewohner und insbesondere die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen negativ bestimmen, gehäuft vorkommen.
(Deutscher Städtetag 1979, 12) Der Deutsche Städtetag sieht die Notwendigkeit einer neuen Bezeichnung für solche Gegenden vor allem in einer veränderten sozioökonomischen Lage seit Mitte der 1960er Jahre begründet (vgl. Deutscher Städtetag 1979, 10).
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Seither hätten sich neben der bisher im Fokus stehenden Obdachlosigkeit neue Formen sozialer Randständigkeit herausgebildet, die nach dem Zurückdrängen des Wohnungsdefizits aufgrund anderer neuer Faktoren Familien, die bisher nicht zum Kreis der Obdachlosen zählen, in erheblichem Ausmaß sozial benachteiligten.
(Deutscher Städtetag 1979, 10) Vor allem, wenn bauliche und Ausstattungsmängel in bestimmten Stadtteilvierteln mit sonstigen vorhandenen sozialen Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsgruppen zusammenfielen, führe dies zu einem Gesamtprozess sozio-ökologischer Randständigkeit (Deutscher Städtetag 1979, 11).
Negativ konnotierte Fremdzuschreibung
Der Deutsche Städtetag bemüht sich um eine strukturelle Bestimmung der Wortverbindung und warnt noch 1979 davor, dass die Verwendung von sozialer Brennpunkt in öffentlichen Diskussionen mit Vorsicht zu genießen sei – und zwar vor allem aus psychologischen Gründen. Vor allem dürfe er nicht zur offiziellen Bezeichnung von ganzen Stadtvierteln werden, da dies zu einer Stigmatisierung von Wohngebieten führen könne. Im Rückblick wird man sagen müssen, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat: Sozialer Brennpunkt ist in der Regel eine Fremdzuschreibung (2000b), die die Konnotation Problemviertel
in sich trägt (1995, 2015b). Die Wortverbindung wird bisweilen im Gegensatz zu bürgerlichen
Wohnvierteln verwendet (2002b). In der Regel verbinden sich Vorstellungen von Armut (1986) und hoher Arbeitslosigkeit (2002a), einer im Vergleich zu anderen Stadtteilen höheren Kriminalität (1997) und Verbreitung von Drogen (1994) sowie einem höheren Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund (1986, 2002a) mit der Wortverbindung. Überwiegend wird sozialer Brennpunkt in Bezug auf Wohngebiete innerhalb Deutschlands bezogen (1998b, 2006, 2008), kann aber auch in Bezug auf ausländische Verhältnisse verwendet werden (1998a, 2015a).
Brennpunkt als Verkürzung von sozialer Brennpunkt
Zwar lässt sich sozialer Brennpunkt mindestens seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nachweisen, gleichwohl kommt es wohl erst um 1980 zu einer zunehmenden Verwendung und damit Etablierung in der deutschen Sprache. Wohl ausgehend von der Etablierung der festen Verbindung in dieser Zeit ist eine weitere Entwicklung bemerkenswert: Seither bilden sich Komposita mit Brennpunkt als Erstglied aus, so etwa Brennpunktschule (2000a), Brennpunktviertel (2003) oder Brennpunkt-Region (2004). In allen diesen Wortbildungen bezieht sich Brennpunkt auf Wohngebiet oder Stadtteil, in dem zu sozialer Benachteiligung führende Faktoren überdurchschnittlich oft auftreten
, ist mithin eine Verkürzung von sozialer Brennpunkt. Nicht zuletzt kann Brennpunkt inzwischen auch alleine für sozialer Brennpunkt
stehen (2017b, 2017a). Damit aber ist zugleich eine neue Bedeutung für Brennpunkt entstanden.
Literatur
Deutscher Städtetag 1979 N. N.: Hinweise zur Arbeit in sozialen Brennpunkten. Köln 1979 (Deutscher Städtetag / D 10).
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu sozialer Brennpunkt.