Wortgeschichte
Vom contrat social zu sozial. Entlehnung aus dem Französischen
Das Wort sozial wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt. Eigentlich gibt es im Deutschen zu diesem Zeitpunkt bereits ein Wort, das auf Formen menschlichen Zusammenlebens referiert: Das Adjektiv gesellschaftlich ist bereits seit dem 17. Jahrhundert bezeugt (1674). Und so bucht Campe in seinem Verdeutschungswörterbuch social denn auch mit der Bedeutung gesellschaftlich
– und dem Verweis Rousseau’s gesellschaftlicher Vertrag, Contract social. Socialrecht (jus sociale) das Gesellschaftsrecht
(2Campe Verdeutschung, 558). Dies ist zugleich die erste lexikographische Erfassung des Wortes sozial im Deutschen (vgl. auch Geck 1963, 26).
Campes Buchung ist symptomatisch für die Entlehnungsgeschichte und frühe Verwendung des Wortes, das Ende des 18. Jahrhunderts über das gleichbedeutende französische social1) aus dem lateinischen socialis die Gesellschaft betreffend, gesellschaftlich, gesellig; ehelich; die Bundesgenossen betreffend
ins Deutsche übernommen wird (vgl. 1DFWB 4, 288–293). Zunächst tritt social in deutschsprachigen Texten in direkten Bezugnahmen auf den Titel von Rousseaus 1762 erstmals publizierte Schrift Du contrat social auf (1768, 1795). Die Bedeutung das (durch Vertrag geregelte) Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft betreffend
hat hier ihre Wurzeln. Stärker als das im Deutschen ältere gesellschaftlich ist social bzw. später sozial in der gesellschaftlichen Bedeutungslinie damit von Anfang an auf die Gesellschaft als abstrakte Größe bezogen – eine Vorstellung, die wissenshistorisch allererst um 1800 entsteht und sich sprachgeschichtlich in der Ausbildung des Abstraktums die Gesellschaft manifestiert. Bezeichnend für frühe Bezeugungen von social im Kontext des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags ist allerdings gerade die Verwendung noch in der französischen Verbindung contrat social, die unmittelbar den Titel des Rousseauschen Werks zitiert. Deutschsprachige Adressierungen des Rousseauschen Textes nutzen andere Wörter wie beispielsweise gesellschaftlich, Gesellschaftsvertrag oder Urvertrag (vgl. exemplarisch 1817). Im Deutschen wird im Übrigen bis heute vom Rousseauschen Gesellschaftsvertrag (1956a, 2007) gesprochen.
Etablierung im Deutschen
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu sozial
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Auch wenn im Deutschen also zunächst noch eher das ältere Wort gesellschaftlich verwendet wird, ist sozial doch auch unabhängig von Rousseaus Wortverwendung bereits am Ende des 18. Jahrhunderts sowohl mit Bezug auf die Tierwelt (1779) als auch mit auf den Menschen bezogen Verwendungen (1797) als eigenständiges Wort bezeugt. Endgültig etabliert es sich dennoch erst in den nachfolgenden Jahrzehnten im Sprachgebrauch (vgl. Geck 1963, 33, der eine zweite Phase des Einsickerns
des Wortes in die deutsche Sprache in den 1830er und 1840er Jahren beobachtet). In den darauffolgenden Jahrzehnten steigt die Bezeugungsfrequenz jedenfalls kontinuierlich an (Abb. 1), und in der Mitte des Jahrhunderts beobachten die Zeitgenossen gar, dass sozial zu einem Modewort geworden sei (1856). Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist in den DWDS Referenzkorpora zudem die eingedeutschte Schreibung sozial bezeugt (1848e), die die ältere Schreibung social nun sukzessive ablöst. Nicht zuletzt entstehen zu dieser Zeit mit antisozialWGd und unsozialWGd erste Antonyme (1824, 1818) sowie eine ganze Reihe von Komposita und Wortverbindungen (vgl. unten den entsprechenden Abschnitt Ein äußerst produktives Wort
), von denen zahlreiche im Verlauf des 19. Jahrhunderts Schlagwortcharakter erhalten – man denke etwa an soziale Frage.
Zwischen Gesellschafts-, Geselligkeits- und Gerechtigkeitsbezug. Bedeutungsspektrum
Insgesamt ist das Bedeutungsspektrum von sozial seit seiner Entlehnung – um an dieser Stelle einen Gemeinplatz der Forschung zu bemühen (vgl. Zimmermann 1948, 175; Geck 1963, 44) – ebenso breit wie diffus und unterliegt einem beständigen Wandel. Sowohl das Bedeutungsspektrum als auch die zu bestimmten Zeiten mit dem Wort verbundenen Konnotationen können an dieser Stelle daher lediglich schlaglichthaft beleuchtet werden.
Das Bedeutungsspektrum, das auf Wörterbuchebene zuletzt vom Deutschen Fremdwörterbuch ausführlich aufgearbeitet worden ist, lässt sich am ehesten über eine Verortung innerhalb des Spannungsfeldes von Gesellschaft und Geselligkeit, in neuester Zeit auch Gerechtigkeit, beschreiben, wie das Belegmaterial verdeutlicht:
Diese [Romane] nennen wir social. Dies fremde, nunmehr bei uns eingebürgerte Wort begreift zweierlei Deutsche in sich, die Geselligkeit und Gesellschaftlichkeit. Das Gesellige ist die Neigung des Menschen zum Verkehr mit andern; das Gesellschaftliche ist die Art und Weise des geselligen Zusammenhangs. [1856]
Bezeugungen im Kontext des Rousseauschen Du contrat social (1768, 1887) sind mit der die Bedeutung das (durch Vertrag geregelte) Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft betreffend
die wohl abstrakteste Verwendungsweise des Wortes; diese Verwendungen sind auf das Abstraktum die Gesellschaft zurückzuführen. In Bezug auf die Gesellschaft steht daneben die Bedeutung die ökonomische und politische Struktur einer gegebenen Gesellschaft betreffend
(1848f).
Daneben kann sozial auch – hier auf Geselligkeit zurückzuführen und insofern gesellschaftlich in seinen frühen, auf Geselligkeit und die gute Gesellschaft
referierenden Bedeutungen nahe – die gesellschaftliche Stellung des Menschen betreffend, auf ihr beruhend
(1840d) bedeuten. Auch hinter der Verbindung der Mensch als soziales Wesen (1967) steht die Vorstellung von Geselligkeit. Schließlich kann sozial bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert in Bezug auf die Tierwelt die Bedeutung gesellig, im Sozialverbund lebend
(1779) annehmen.
Erst im 20. Jahrhundert entstehen die Bedeutungen dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend; die wirtschaftlich Schwächeren schützend
(1956b) sowie menschlich, human, menschenfreundlich, wohltätig, gemeinnützig, hilfsbereit
(2012). Diese Bedeutungen lassen sich nunmehr auf Gerechtigkeit zurückführen.
Ein bedenkliche[r] rote[r]
Anstrich
. Politische Bedeutungsaspekte im 19. Jahrhundert
rote[r]Anstrich
Nicht nur das Spektrum an Bedeutungen, das sozial im Verlauf der vergangenen über 200 Jahre ausbildet, ist breit, auch die Konnotationen, die sich mit dem Wort verbinden, sind vielfältig und historisch variabel. Auch wenn frühe Bezeugungen, die auf das gesellschaftliche Leben bezogen sind, wohl nicht im engeren Sinn politisch konnotiert sind, lässt sich doch für das 19. Jahrhundert mindestens in bestimmten Diskursen eine deutliche politische Verwendungsweise des Wortes sozial beobachten. So wird sozial mindestens seit den 1830er Jahren auch im Kontext des Politischen verwendet (1832, 1840c). Diese Entwicklung ist wohl auch in Zusammenhang mit dem nach 1830 merkbar eindringenden revolutionären französischen Ideengut
zu verstehen, infolge dessen sozial zum politischen Schlagwort wird (Pfeifer unter sozialDWDS). Ohnehin treten das Politische und das Soziale wissenshistorisch erst seit den 1840er Jahren auseinander (vgl. HWPh 9, 1117), werden die Worte politisch und sozial noch im Verlauf des 19. Jahrhunderts bisweilen synonym verwendet (vgl. 1DFWB 4, 288–293).
Sprachhistorisch ist zudem ein Blick auf die Konnotationen aufschlussreich, die das Wort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest in bestimmten Kontexten aufweist. So notiert Jürgen Zimmermann, von dem die erste begriffsgeschichtliche Untersuchung zu Sozial und sozial stammt, im Jahr 1948:
Als ich vor 50 Jahren als Student zum ersten Male mitsozialenFragen in praktisch erlebte und in geistig erregende Berührung kam, da schiensozialnoch ein blutvolles Kraftwort, ein Begriff, der für alle Welt (außerhalb enger wissenschaftlicher Fachkreise) einen eindeutigen Gehalt hatte und fast jedermann, der das verdächtige oder gefährliche Wort gebrauchte, zu einer Stellungnahme zu densozialenDingen aufrief. Da haftete demSozialenmeist noch ein peinlicher, fast aufreizender Geruch an, der vonarmen Leuten, von denProletariern, von der ausgebeuteten und aufbegehrendenArbeiterklasseausging und zur Abhilfe, zur Unterdrückung oder zum Abwehrkampfe herausforderte. DasSozialehatte in der öffentlichen Meinung bis hoch in die Kreise der Intelligenz und der Wissenschaft hinein einen bedenklichenrotenAnstrich […]. [Zimmermann 1948, 173]
Zumindest für jene Diskurse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen sozial im Sinne der sozialen Frage, der Arbeiterfrage verwendet wird, ist sicher richtig, dass hier ein ganz bestimmtes, rotes
politisches Spektrum adressiert wird (1840e, 1849b, 1874), ohne dass sich jede Verwendung von sozial zu dieser Zeit in dieser Linie einordnen lässt (1870, 1890a).
Ein äußerst produktives Wort
Einmal etabliert wird sozial im Deutschen zu einem sehr produktiven Wort: Im Laufe der vergangenen über 200 Jahre bilden sich nicht nur zahlreiche Komposita, die den Status von lexikalisierten Wörtern erreichen, sondern auch zahlreiche feste Wortverbindungen heraus (vgl. auch HWPh, 1117).
Seit den 1830er Jahren und damit zeitgleich zur weiteren Verbreitung des Wortes sozial gehen eine ganze Reihe an Wortverbindungen fest in den deutschen Sprachhaushalt ein. So bereits früh etwa soziale Reform (1832), soziale Revolution (1835c) oder soziale Stellung (1835d). Ebenfalls seit den 1830er Jahren sind Wortverbindungen bezeugt, die auf gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse abzielen, wie die in den 1830er und 1840er Jahren erstmals bezeugten Verbindungen sozialer Fortschritt und soziale Entwicklung (1836, 1840b) und die um die Jahrhundertwende entstehenden Verbindungen soziale Evolution und sozialer Wandel (1890b, 1912). Die Wortverbindung Soziale Frage, die zu einem der großen Schlagwort der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avanciert, entsteht als Abstraktum in der Mitte des 19. Jahrhunderts (1835e, 1845, 1848d); zunächst sind auch noch pluralische Zusammensetzungen bezeugt (1840a).
Zu den älteren Komposita gehören Sozialausgaben (1835a) und Sozialbesteuerung (1835b); diese haben allerdings wohl zunächst noch den Status einer Spontanbildung einzelner Autoren und sind danach (lange) nicht mehr bezeugt bzw. sie beruhen wie die seit Ende des 18. Jahrhunderts bezeugten Wörter Social(zu)stand oder Socialgesetz auf einer früheren, direkten Entlehnung aus dem Lateinischen (Pfeifer unter sozialDWDS). Erst Ende der 1840er Jahre und damit in zeitlicher Nähe zu den Ereignissen um 1848 entsteht eine ganze Reihe von Komposita wie Sozialreformer und Sozialheer (1848b), Sozialdemokrat (1849a) und Sozialaufwiegler (1848c), Sozialwerkstätten und Sozialpartei (1848a), von denen manche den Status einer Spontanbildung haben, andere sich hingegen dauerhaft etabliert haben.
Bis in die Gegenwart ist sozial mit Blick auf Wortbildungen ein ausgesprochen produktives Wort: Zu den im 20. Jahrhundert neu entstandenen Verbindungen gehören beispielsweise soziale Marktwirtschaft (1950) oder sozialer BrennpunktWGd (1971). Jüngst ist mit soziale MedienWGd eine neue feste Wortverbindung entstanden, die kaum mehr aus dem Alltag wegzudenken ist – und die doch erst wenige Jahre alt ist: Erstbezeugungen im Deutschen datieren auf das 21. Jahrhundert (2009, vgl. auch Neologismenwb. unter soziale Medien sowie Neologismenwb. unter Social Media).
Anmerkungen
1) Vgl. zu der der Entlehnung ins Deutsche vorgelagerten semantischen Entwicklung im Französischen im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch Pfeifer unter sozialDWDS.
Literatur
2Campe Verdeutschung Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe’s Wörterbüchern. Neue stark vermehrte und durchgängig verbesserte Ausgabe. (Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. Reihe II. Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Henne.) Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1813. Hildesheim/New York 1970. (mdz-nbn-resolving.de)
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
Geck 1963 Geck, Ludwig Heinrich Adolph: Über das Eindringen des Wortes „sozial“ in die deutsche Sprache. Göttingen 1963.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Neologismenwb. Leibniz-Institut für deutsche Sprache (IDS): Neologismenwörterbuch. (owid.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Zimmermann 1948 Zimmermann, Waldemar: Das „Soziale“ im geschichtlichen Sinn- und Begriffswandel. In: L. H. Ad. Geck/Jürgen von Kempinski/Hanna Meuter: Studien zur Soziologie. Festgabe für Leopold von Wiese. Bd. 1. Mainz 1948, S. 173–191.