Wortgeschichte
Reichenviertel entsteht später als Armenviertel
Reichenviertel ist ein Unterbegriff von Stadtviertel, das erstmals in der Mitte des 18. Jahrhunderts begegnet (1740), und ein Antonym zu ArmenviertelWGd. Während Armenviertel – wie übrigens auch ArmenkolonieWGd – bereits in den 1820er Jahren belegt ist (1825, 1826), ist Reichenviertel jüngeren Datums. Zwar gibt es einzelne Bezeugungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts (1850, 1907), weitere Verbreitung hat das Wort jedoch erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gefunden (1989, 1992, 1994; vgl. daneben Abb. 1 sowie die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Gleichwohl bleibt Armenviertel insgesamt das deutlich weiter verbreitete Wort.
Kein Reichenviertel ohne Armenviertel
Auffallend ist, dass Armenviertel in der Regel für sich steht, Reichenviertel dahingegen oftmals zusammen mit Armenviertel oder zumindest unter expliziter Abgrenzung von Armen und Armut auftritt (1907, 1989, 1992, 2010, 2013). Das spricht dafür, dass sich die Bedeutung von Reichenviertel stärker als andere Wörter, die ebenfalls Wohngegenden für Wohlhabende bezeichnen, über die wirtschaftliche Situation der Bewohner konstituiert. Die beiden älteren, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bezeugten Wörter VillenkolonieWGd und VillenviertelWGd etwa bezeichnen ebenfalls teure und vornehme Wohngegenden, betonen dabei über das Bestimmungswort VillaWGd stärker, dass es sich hier um ein Wohnviertel mit herrschaftlichen Häusern handelt (1924). Das ebenfalls seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnende NobelviertelWGd, das Stadtteil, dessen Erscheinungsbild von eleganten, vornehmen (Wohn-)Häusern und Geschäften bestimmt wird
bedeutet, impliziert dahingegen stärker das Luxuriöse, das Vornehme, bezieht gerade auch Geschäftsbezirke mit ein und kann wie andere Zusammensetzungen mit nobel auch spöttisch verwendet werden (vgl. 10Paul, 708; 2014). Anders als Reichenviertel treten diese Wörter im Übrigen auch bzw. vorwiegend alleine in Erscheinung.
Literatur
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Belegauswahl
Dielhelm, J.H.: Denkwürdiger und nützlicher Antiquarius des Neckar- Mayn- Lohn- und Mosel-Stroms [...]. Frankfurt am Mayn 1740, S. 252. (books.google.de)Die Häuser sind durchgehends ansehnlich, aber die Gassen etwas enge. Ueberhaupt wird die Stadt Würzburg in acht Vierteln abgetheilet, nemlich in die vier Stadtvierrtel und in die vier Vorstädte.
Helfert, Joseph: Von den Einkünften, Abgaben und Verlassenschaften geistlicher Personen. Prag 1825, S. 203-204. (books.google.de)Vielmehr wurde den Geistlichen nach der Theilung noch das Armenviertel zugeschlagen, weil sie mit ihrem Viertel nicht auslangen konnten.
Allgemeine Zeitung für das Jahr 1826. Mit einem vollständigen Nominat- und Sach-Register. Stuttgart/Tübingen 1826, S. 54. (books.google.de)Die administrirende Direktion der Armenkolonie Frederiksgabe, an deren Spize der verehrungswürdige Konferenzrath und Kommandeur J. D. Law[ä]tz steht, gat den 5ten Jahresbericht bekannt gemacht.
Heßler, Karl Albert: Die milden Stiftungen der Stadt Budissin. Drittes Heft. Budissin 1850, S. 279. (books.google.de)Die Armendistricte sind in der Maaße eingetheilt, daß sich der erste von No. 1. bis mit No. 67. im innern Reichenviertel, der zweite von No. 68. bis mit No. 145. im innern Lauenviertel, der dritte von No. 146. bis mit No. 209. im innern Ortenburger-Viertel, der vierte von No. 210. bis mit No. 269. des inneren Wendischen Viertels, der fünfte von No. 1. bis mit No. 93. im äußeren Ortenburger-Viertel, der sechste von No. 94. bis mit No. 190. im äußeren Wendischen Viertel, der siebente von No. 191. bis mit No. 317, der achte von No. 318. bis mit No. 449. und der neunte von No. 450. bis mit 552. erstreckt.
Zacher, G. [Hrsg.]: Die Arbeiter-Versicherung im Auslande. Heft Vb Die Arbeiter-Versicherung in England (Großbritannien und Irland). 2. Nachtrag zu Heft V. Bearbeitet von Henry W. Wolff. Berlin 1907, S. 4.Die Erkenntnis, daß der Staat aus allen seinen Staatsbürgern besteht und für alle sorgen muß, daß der Krebsschaden im Armenviertel dem Reichenviertel recht fühlbar Eintrag tut, und daß dem mit der zunehmenden Volkszahl und dem nationalen Reichtum gleichmäßig wachsenden Uebel der Not in allen seinen Gestalten nicht mehr allein auf dem Wege der privaten Mildtätigkeit zu steuern ist, daß dem Staate wie dem Einzelnen soziale Pflichten obliegen, ist dabei zum mindesten ebenso bestimmend wie das Verlangen nach der Unterstützung durch die Arbeiterbevölkerung bei den Parlamentswahlen.
Vossische Zeitung (Abend-Ausgabe), 13. 3. 1924, S. 3. [DWDS]Auf dem ehemaligen Gut entstand vor bald fünfzig Jahren die Leopoldstraße mit ihren Villen und Nebenstraßen: das vornehme Villenviertel Münchens.
Die Zeit, 10. 11. 1989, Nr. 46. [DWDS] (zeit.de)Viele Waren in den Armenvierteln sind teurer als in den Supermärkten der Reichenviertel.
Die Zeit, 8. 5. 1992, Nr. 20. [DWDS] (zeit.de)Und der lebt – weil er Geld verdienen will, das die Armen nicht haben – zumeist in Banani, dem Reichenviertel von Dhaka.
Die Zeit, 28. 1. 1994, Nr. 05. [DWDS] (zeit.de)Zudem lassen sich Stadtteile mit gemischter Bevölkerung besser erhalten, läßt sich der vor allem aus den Vereinigten Staaten bekannte Zerfall in Armen- und Reichenviertel eher begrenzen, wenn die Kommunen einzelne Projekte fördern.
Die Zeit, 15. 7. 2010, Nr. 29. [DWDS] (zeit.de)Auch hier gibt es das Mit- und Gegeneinander von oben und unten, dieshacks, die Wellblechhütten, neben Beverly Hills, dem Reichenviertel, wo Winnie Mandela hinter hohen Mauern in ihrer Villa lebt.
Die Zeit, 27. 3. 2013, Nr. 14. [DWDS] (zeit.de)Auch in diesem Museum wuchert die Kunst, sie wächst dicht an dicht an Drahtseilen und Gestellen in die Luft, wie die Pflanzen im Dschungel, der die Stadt umgibt und in sie hineindrängt, wie die labyrinthischen Favelas, die sich auf den Hügeln zwischen den Reichenvierteln ausbreiten.
Die Zeit, 6. 12. 2014 (online). [DWDS] (zeit.de)London Colney (AFP) Ein Londoner Luxushotel hat mit der Aufforderung an eine Mutter, ihren Säugling beim Stillen unter einem Tuch zu verbergen, für Empörung gesorgt. Vor dem Fünf-Sterne-Hotel Claridge’s im Nobelviertel Mayfair protestierten am Samstag etwa 15 Mütter mit einem Gruppen-Stillen. Verärgert über das, was der 35-jährigen Louise Burns und ihrer drei Monate alten Tochter Isadora während der Teestunde am Nachmittag in der von vielen internationalen Gästen besuchten Nobelherberge widerfahren war, hielt eine von ihnen ein Schild mit der Aufschrift hoch: „Dafür sind Brüste da, Dummkopf“.