Wortgeschichte
Slums: Entlehnung eines englischen Wortes unklarer Herkunft
Slum ist mit der Bedeutung Elendsviertel
erstmals Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen bezeugt (1884; 1895; vgl. 1DFWB 4, 240). Gesichert ist, dass es aus dem Englischen entlehnt wird – frühe Bezeugungen markieren das Wort teilweise noch als Fremdwort (1884, 1895). Das 3OED bucht slum ab den 1820er Jahren und vermerkt zur Herkunft lediglich, dass es ursprünglich aus einem Jargon stamme (vgl. 3OED unter slum, n1). Und auch im Kluge ist vermerkt, dass die Herkunft des neuenglischen Wortes slum nicht weiter geklärt sei (vgl. 25Kluge, 854).
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Der amerikanische Autor, Musiker und Filmemacher Daniel Cassidy hat 2007 die These aufgestellt, dass das Wort auf die irische Phrase ’S lom é
, es ist exponierter, verletzlicher Ort; es ist Armut
(vgl. Cassidy 2007, 267) zurückzuführen sei. Allerdings ist diese Annahme wissenschaftlich nicht belastbar: Cassedys Version der Etymologien dieser Wörter scheint hauptsächlich auf einer Übereinstimmung von phonetischer Ähnlichkeit und verwandter Bedeutung zwischen Ausdrücken im Englischen und Irischen zu beruhen. Dieses methodische Vorgehen ist in vielerlei Hinsicht problembehaftet, so insbesondere, weil ihm die Annahme zugrunde liegt, dass der sprachliche Einfluss unidirektional war: Das Vorgehen beinhaltet keine historische Analyse, um zu zeigen, in welcher Sprache die einzelnen Ausdrücke zuerst erschienen.
(MacDougall 2007, 74, Übersetzung ASB)1)
Von englischen Elendsvierteln zu globalen informellen Siedlungen. Semantische Erweiterung
Frühe Verwendungen im Deutschen sind in der Regel in Bezug auf die englischen, insbesondere Londoner, und amerikanischen Verhältnisse bezogen (1884, 1895, 1912, 1934; vgl. auch 1DFWB 4, 240), und damit vor allem auf Gegenden, die von der Industrialisierung und den sie begleitenden sozioökonomischen Veränderungen besonders betroffen sind.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird Slum dann auch allgemeiner für Elendsviertel
verwendet (1940, 1953). Auch wenn das Wort ab der Mitte des Jahrhunderts gelegentlich auch auf deutsche Verhältnisse übertragen werden kann (1965a, 1971, 2012b), bleibt doch die überwiegende Verwendung auf ausländische (1955, 1959, 2004), zumal außereuropäische Gebiete bezogen (1961, 1962, 1965b). Dabei unterscheiden sich die Konnotationen der Wortverwendungen durchaus: Während ein Slum innerhalb Deutschlands ein Armenviertel
oder ein Problemviertel
bezeichnet, das gleichwohl keine illegal errichteten Gebäude umfasst, bedeutet Slum in Bezug auf Gebiete insbesondere der sogenannten Dritten Welt
gerade informelle Siedlungen mit mangelnder Infrastruktur und hoher Armutsrate, die insbesondere am Rande von Millionenstädten entstehen
(vgl. ähnlich auch die Bestimmung in United Nations 2015, 1). In diesen Verwendungen verbindet sich neben Armut (1962, 2012a) mit dem Wort Slum im Gegensatz zu Bezeichnungen für anderen Formen von Stadtvierteln wie etwa ArmenviertelWGd, sozialer BrennpunktWGd oder ProblemviertelWGd, in denen ebenfalls vorwiegend sozial Benachteiligte leben, also vor allem die Konnotation, dass die Unterkünfte hier ohne Plan oder Genehmigung entstehen und entsprechend über keine funktionierende Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung oder Kanalisation verfügen (1998a).
Slum bzw. Slums wird häufig im Plural verwendet (vgl. Anglizismen-Wb. 3, 1334); das Deutsche Fremdwörterbuch bucht Slums Ende der 1970er Jahre noch in der Pluralform und mit dem Vermerk nur Pl.
(1DFWB 4, 240). Gleichwohl begegnet das Wort auch in der Singularform (1950, 2012b).
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Schlammviertel als Übersetzung von Slum
1911 veröffentlicht die schweizerische Journalistin Else Spiller Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Grosstädte. Wenn sie hier slums als Schlammviertel übersetzt, dann spielt hier vermutlich neben slum in der Bedeutung Stadtviertel, in dem die Häuser und die Lebensbedingungen einen schmutzigen und erbärmlichen Charakter haben
(3OED unter slum, n1) auch das englische Wort slum in der Bedeutung Schlamm
(vgl. 3OED unter slum, n2) mit hinein. Daneben mag die klangliche Ähnlichkeit von slum und Schlamm auch eine Rolle gespielt haben. Die Übersetzung Schlammviertel für slum scheint keine weitere Verbreitung gefunden zu haben, auch wenn es vereinzelte Bezeugungen gibt (1999).
Verslumung: Zunehmende Verwahrlosung von Städten
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Verslumung“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsteht Verslumung als Ableitung von Slum (1974, 1984, 1991). Es bedeutet seither zunehmende Verwahrlosung von Städten oder Stadtteilen
(vgl. Anglizismen-Wb. 3, 1334). Das Wort verbreitet sich ab den 1970er Jahren bis Mitte der 1990er Jahre hinein zunehmend, bevor die Bezeugungsfrequenz dann wieder deutlich sinkt (vgl. Abb. 1 sowie die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Verslumung wird zwar auch auf überseeische Städte bezogen verwendet (1993), anders als bei seiner Ableitungsgrundlage Slum zeigen die Belege für Verslumung jedoch mehrheitlich Verwendungen in Bezug auf den deutschsprachigen und europäischen städtischen Raum (1994, 1995, 1997a, 1998b). Gelegentlich begegnet auch die alternative Schreibweise Verslummung (1997b), jedoch sind, so das Anglizismen-Wörterbuch, keine Prinzipien erkennbar, nach denen die Schreibung geregelt ist (vgl. Anglizismen-Wb. 3, 1334). Ungefähr zeitgleich mit Verslumung ist auch das Verb verslumen mit der Bedeutung verwahrlosen, zum Slum werden
bezeugt (1970, 1987), das im Vergleich zum Substantiv allerdings weniger weit verbreitet ist (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Anmerkungen
1) Im Original: Cassedy’s version of the etymologies of these words seems to be based mainly on a coincidence of phonetic similarity and related meaning between expressions in English and Irish. There are a number of flaws with this methodology, not the least of which is the underlying assumption that the linguistic influence was unidirectional: no historical analysis included to demonstrate in which language the individual expressions first appeared.
(MacDougall 2007, 74)
Literatur
Anglizismen-Wb. Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945, begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse. Bd. 1–3. Berlin/New York 1993–1996.
Cassidy 2007 Cassidy, David: How the Irish Invented Slang: The Secret Language of the Crosseroads. Petrolia, California 2007.
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
MacDougall 2007 MacDougall, Heather: Review. Reviewed Work(s): How the Irish Invented Slang: The Secret Language of the Crosseroads by David Cassidy. In: The Canadian Journal of Irish Studies (Fall, 2007), Bd. 33, H. 2, S. 74. (jstor.org)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
United Nations 2015 United Nations: Habitat III Issue Papers. 22 – Informal Settelments. Not edited version 2.0, New York, May 2015. (unhabitat.org)
Züblin-Spiller 1911 Züblin-Spiller, Else: Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Großstädte, 2. Aufl. Aarau u. a. 1911.