Wortgeschichte
Villenkolonie und Villenviertel. Zwei Komposita des 19. Jahrhunderts
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehen sach- wie sprachhistorisch nicht nur Arbeiter- und ArmenviertelWGd, sondern, gewissermaßen am anderen Ende des sozialen Spektrums, auch Villenkolonien bzw. Villenviertel. Sprachgeschichtlich betrachtet werden beide Komposita mit nur wenig zeitlichem Abstand geprägt: Villenkolonie ist spätestens mit Beginn der 1870er Jahre bezeugt (1871b), Villenviertel wenig später (1882). Beide beziehen sich – zunächst – auf (bürgerliche) Wohnviertel mit herrschaftlichen Häusern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Regel am Stadtrand im Grünen entstehen und deren Villen als ganzjährige Wohnhäuser fungieren.
Villa. Von Sommerhaus
zu Wohnhaus
Voraussetzung für die Bildung der neuen Komposita ist eine semantische Transformation, die Villa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchläuft. Ursprünglich ist es aus dem italienischen villa entlehnt, das seinerseits auf das lateinische villa, Landhaus, Landgut
, zurückzuführen ist. Im Deutschen ist das Wort seit dem 17. Jahrhundert bezeugt (vgl. 25Kluge, 960). Zunächst bleibt Villa in der Bedeutung auf dem Lande oder frei auf einem Gartengrundstück in der Stadt stehendes herrschaftliches bzw. luxuriös-aufwendig ausgestattetes Einzelwohnhaus; Landhaus, Sommersitz
häufig auf italienische Verhältnisse bezogen (vgl. 1DFWB 6, 187–188; 1679, 1785). In Anlehnung an die italienischen Villen legten sich reiche Bürger der großen Städte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Landhäuser als Feriensitze oder Sommerhäuser zu (vgl. Wolbring 2014, 184), die nunmehr auch als Villa bezeichnet werden können (1830, 1846, 1848).
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund der zunehmenden Trennung von Wohnen und Arbeit im Bürgertum ist dann eine sachhistorische Veränderung der Nutzung von Villen und damit verbunden sprachhistorisch eine semantische Transformation für Villa zu verzeichnen: Die
(Wolbring 2014, 185, 1871a, 1913). Zunächst vor allem auf herrschaftliche Formen des Wohnens bezogen, wird das Wort um die Jahrhundertwende zunehmend unspezifisch: Alles Villa
wurde vom Sommerhaus zum ständigen Wohnhaus.wollte schließlich Villa sein; auch Häuser, die eher einem normalen Wohnhaus glichen, bekamen jetzt den klangvollen Titel
(Weichel 1996, 244–245)Villa
. Die absolute Oberschicht baute natürlich weiterhin große, ausladende Villen.
Die Ausbildung von Villenkolonie und Villenviertel
Hintergrund nicht nur für die semantische Transformation von Villa, sondern auch für die Ausbildung der Komposita Villenkolonie und Villenviertel – also von Stadtvierteln, die sich aus Villen in dieser neuen Bedeutung zusammensetzen – ist die Veränderung bürgerlichen Wohnens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:
Mit dem industriellen Aufschwung seit der Jahrhundertmitte und den besseren Verkehrsverbindungen zog, wer es sich leisten konnte, aus den engen Altstädten hinaus vor die Tore der Städte und errichtete dort ein neues Wohnhaus. Solche Villenviertel entstanden in jeder größeren Stadt […]. [Wolbring 2014, 185]
In dem Moment also, wo am Stadtrand eine Vielzahl von Villen eine neue Form der Siedlung bilden, bilden sich mit Villenkolonie und Villenviertel hierfür auch Bezeichnungen heraus.
Sprachhistorische Voraussetzung für die Bildung des Kompositums Villenkolonie ist darüber hinaus die Abkoppelung der Bedeutung Siedlung
von der machtpolitischen Bedeutungsschicht des neuzeitlichen Wortes Kolonie im Verlauf des 18. Jahrhunderts (vgl. hierzu im Detail KolonieWGd. Villenkolonie steht damit zugleich in einer Reihe mit Komposita, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Grundwort Kolonie bilden; das Spektrum reicht von Armen-WGd (1825) über Arbeiter-WGd (1866) bis hin zu Gartenkolonie (1876).
Villenviertel hingegen ist ein Unterbegriff von Stadtviertel. Viertel ist bereits im Mittelhochdeutschen bezeugt; ältere Formen sind vierteil, althochdeutsch fiorteil und mittelniederdeutsch vērdel. In allen älteren Formen ist noch erkennbar, dass Viertel eine Zusammenrückung und damit Vereinfachung von der vierte Teil
ist (vgl. 25Kluge, 960). Die Bedeutung Stadtviertel
geht auf Städte mit alten römischen Anlagen zurück, die tatsächlich gevierteilt waren (vgl. 25Kluge, 960).
Semantisches Auseinandertreten im 20. Jahrhundert
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Villenviertel“ und „Villenkolonie“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Villenkolonie und Villenviertel entstehen nicht nur im Abstand von nur wenigen Jahren, sie sind im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zunächst auch ungefähr gleich verbreitet und werden synonym verwendet (1901, 1907). Hinsichtlich der Verbreitung löst Villenviertel Villenkolonie im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann ab (vgl. Abb. 1 sowie die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Zugleich ist ein semantisches Auseinandertreten der vormals synonym verwendeten Wörter zu verzeichnen. Villenviertel bezeichnet heute allgemein teure und vornehme Wohngegend mit herrschaftlichen Häusern
und kann damit nicht nur auf jene Villenkolonien des 19. Jahrhunderts (2005), sondern auch und gerade auf heutige Stadtviertel in Deutschland (1970) ebenso wie weltweit (1984) bezogen werden. Villenkolonie wird nach einem Rückgang der Bezeugungsfrequenz in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in der Mitte des Jahrhunderts gelegentlich in einem unspezifischen Sinn verwendet (1954), bevor es nurmehr vor allem in Bezug auf jene um die Jahrhundertwende gegründeten Villenkolonien verwendet wird (1994, 2007).
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Weichel hat die These aufgestellt, dass es sich bei Villenkolonien um durchgeplante, bei Villenviertel um gewachsene Siedlungen handelt (vgl. Weichel 1996, 249). Das mag in der Tendenz nicht ganz falsch sein und würde auch erklären, weshalb Villenkolonie gegenwärtig nurmehr in Bezug auf Siedlungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende verwendet wird, Villenviertel jedoch breit. Gleichwohl zeigen die Belege, dass die Wörter auch synonym verwendet worden sind (1901, 1907).
Die Gründe für die rückläufige Verwendungsfrequenz des Wortes Villenkolonie sind sicherlich vielfältig – vermutlich mit eine Rolle mag das ungefähr zeitgleiche Ende des deutschen Kolonialengagements in Übersee und die damit sinkende Verwendungsfrequenz des Grundwortes Kolonie gespielt haben.
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
Weichel 1996 Weichel, Thomas: Bürgerliche Villenkultur im 19. Jahrhundert. In: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996, S. 234–251.
Wolbring 2014 Wolbring, Barbara: Bürgerliches Leben in der Kleinstadt. Gelnhausen im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 119 (2014), Bd. 119, S. 177–194.