Wortgeschichte
Vom Ghetto zur Ghettoisierung jüdischer Bevölkerung
Die Geschichte des Wortes Ghettoisierung bzw. Gettoisierung hängt unmittelbar mit der Geschichte seiner Ableitungsbasis GhettoWGd zusammen. Ghetto ist seit dem 17. Jahrhundert mit der Bedeutung Stadtviertel, in dem Juden abgetrennt von der übrigen Bevölkerung leben
im Deutschen bezeugt (1614). Entlehnt wird es, soviel kann als gesichert gelten, aus dem italienischen ghetto. Die weitere Herkunft ist hingegen nicht eindeutig geklärt (vgl. GhettoWGd). Im Deutschen zunächst und bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein in Bezug auf Italien verwendet (1704), kann das Wort seit dem 19. Jahrhundert auch ein separates, zum Teil auch zwangsweise abgeschlossenes Judenviertel außerhalb Italiens bezeichnen (1835).
Von dieser Bedeutung leitet sich im frühen 20. Jahrhundert Ghettoisierung ab. Das Wort gehört im Bereich der Wortbildung des Substantivs damit zu den wenigen Ableitungen mit Suffix -ung, die keine verbale, sondern eine substantivische Basis haben (vgl. hierzu Fleischer/Barz 2012, 225 und 229); die verbale Ableitung gettoisieren bzw. ghettoisieren ist erst seit den 1970er Jahren bezeugt (1974a, 2001; vgl. auch 2DFWB unter Ghetto) und ausgesprochen selten. Überwiegend bedeutet ghettoisieren isolieren, absondern
(2000), nur selten wird es in Bezug auf die (Zwangs-)Segregation von Juden verwendet (2003). Das Substantiv Ghettoisierung hat zunächst die Bedeutung Prozess der sozialräumlichen Segregation von Juden im Allgemeinen
(1920). Daneben gibt es Verwendungen in Bezug auf Minderheiten im Allgemeinen (1931). Insgesamt ist die Verbreitung des Wortes zu dieser Zeit noch gering. Dabei wird das Wort zunächst auch von jüdischer Seite verwendet (1920).
Unter nationalsozialistischer Herrschaft steht Ghetto für behördlich erzwungenes, zwangsweise eingerichtetes und räumlich beschränktes jüdisches Wohnviertel
und erhält damit neue Bedeutungsaspekte (vgl. hierzu auch Ravid 1992, 383). Vor diesem Hintergrund bezieht sich auch Ghettoisierung nunmehr vor allem auf den Prozess der erzwungenen sozialräumlichen Segregation von Juden. Sein Auftreten in Zusammenhang mit der Deportation der Juden zeigt zugleich, dass Ghettoisierung nunmehr für einen Teilprozess innerhalb der systematischen Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs steht (1938, 1941). Auch gegenwärtig wird das Wort mit Bezug auf diesen historischen Sacherhalt verwendet (1981, 1988, 1994).
Sozialräumliche Segregation von Minderheiten. Bedeutungserweiterung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Vermutlich als Neuentlehnung aus dem Englischen nimmt Ghetto in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die neue Bedeutung Stadtviertel, in dem Minderheiten, Einwohner verschiedener Nationalitäten zusammenleben, Elendsviertel
an (1953, 1956). Vor diesem Hintergrund kann auch Ghettoisierung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts den Prozess sozialräumlicher Segregation von Minderheiten und Einkommensschwachen im Allgemeinen bezeichnen (1966). Vergleichbar der Ableitungsbasis Ghetto wird auch Ghettoisierung zunächst insbesondere in Bezug auf die USA verwendet (1966). Erst ab den 1970er Jahren und vor dem Hintergrund eines sozio-ökonomischen Wandels in den westlichen Industriestaaten, der zu neuerlichen Formen sozialräumlicher Segregation führt (vgl. Häußermann 2012), wird Ghettoisierung auch für Prozesse sozialräumlicher Trennung in deutschen Städten gebraucht (1979, 1983). Häufig ist das Wort dabei mit negativ besetzten Vorstellungen etwa von hoher Kriminalität belegt (1998). Überwiegend wird Ghettoisierung zudem in Bezug auf die Separierung Einkommensschwacher verwendet (1995). Daneben treten auch solche Verwendungen, die lediglich den Bedeutungsaspekt der räumlichen Abgrenzung anschließen (2002) sowie solche, die auf die gezielte Absonderung von sozialen Gruppen im Allgemeinen abheben (1974b) – der Übergang zu Verwendungen im übertragenen Sinn (1997) ist hier fließend.
Literatur
2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Häußermann 2012 Häußermann, Hartmut: Wohnen und Quartier: Ursachen sozialräumlicher Segregation. In: Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hrsg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Wiesbaden 2012, S. 383–396.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Ravid 1992 Ravid, Benjamin C. I.: From Geographical Realia to Historiographical Symbol: The Odyssey of the Word Ghetto. In: David Ruderman: Essential Papers on Jewish culture in Renaissance and Baroque Italy. New York u. a. 1992, S. 372–385.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Gettoisierung, Ghettoisierung, gettoisieren, ghettoisieren.