Wortgeschichte
Zwischen Siedlungswesen und Machtpolitik
Das semantische Spektrum des Wortes Kolonie umfasst neben einer genuin machtpolitischen auch eine weitere, auf das Siedlungswesen im Allgemeinen abzielende Bedeutungsdimension. Sie kommt etwa in entsprechenden Bezeichnungen für Schrebergarten- bzw. Kleingartenkolonien, aber auch in Wortbildungen wie VillenkolonieWGd oder Künstlerkolonie zum Tragen.
Coloniae. Wortherkunft
Das Wort Kolonie ist sprachhistorisch auf das lateinische colōnia zurückzuführen, das Siedlung, Niederlassung
bedeutet. Colōnia leitet sich vom Verb colere, bebauen, pflegen
, ab und ist eng mit cultūra Bearbeitung, Pflege, Ackerbau
verwandt. Bereits im Altertum dienen colōniae der Sicherung der militärischen und politischen Herrschaft Roms. Unterschieden werden können zwei grundlegende Formen der colōniae: die an der italienischen Küste gelegenen Bürgerkolonien (colōniae cīvium Rōmānōrum) einerseits, deren Kolonisten Vollbürger sind, und die lateinischen Kolonien (colōniae Latīnae) andererseits, die Festungen an der Grenze oder im Feindesland sind und deren Einwohner ihr römisches Bürgerrecht verlieren (vgl. Galsterer 2006, online). Im Mittelalter spielen Kolonien in diesem Sinn keine nennenswerte Rolle.
Überseeische Kolonien. Die neuzeitliche, machtpolitisch-expansionistische Bedeutungsdimension
Das ändert sich mit dem Beginn des Zeitalters der Expansion, das eng mit Christoph Kolumbus’ Überfahrt nach Amerika 1492 und Vasco da Gamas Entdeckung des Seewegs durch den indischen Ozean 1498 verbunden ist. Zu dieser Zeit tritt auch das Wort Kolonie wieder in Erscheinung. Zunächst noch in der ursprünglichen, auf die römischen coloniae bezogenen Bedeutung, tritt das Wort im neuzeitlichen Sprachgebrauch erstmals im Verlauf des 14. Jahrhunderts im Französischen auf (vgl. TLFi unter colonie). Nach und nach erhält es dann sein machtpolitisch-expansionistisches Profil: Die neuzeitliche Bedeutung für Kolonie, das sich nun auf neu entdeckte, überseeische Gebiete bezieht (1631a, 1792), entsteht im Verlauf des 16. Jahrhunderts zunächst in neulateinischen und italienischen Texten, dann auch in den anderen europäischen Sprachen (vgl. 3OED unter colony, n.). Die ursprüngliche, auf römische Kolonien bezogene Bedeutung bleibt dabei parallel zu der neuen Bedeutung weiter bestehen (1758, 1811). Im Deutschen bleibt zudem auch im nunmehr auf die Eroberung überseeischer Territorien durch europäische Mächte ausgerichteten Wort, das die Bedeutungsaspekte Neugründung
(1631b, 1756) ebenso wie Siedlung
bzw. Gemeinwesen
(1631c) trägt, die ursprüngliche Bedeutung von colōnia als Niederlassung
bzw. Neugründung
weiter präsent. Diese spiegelt sich auch in den im Laufe des 19. Jahrhunderts geprägten Komposita Pflanzungskolonie und Ackerbaukolonie noch wider (1809, 1900). Ein Spezifikum der deutschen Sprache ist schließlich die Prägung des Synonyms SchutzgebieteWGd (1898a, 1913a) für die deutschen Kolonien durch Bismarck.
Die machtpolitisch-expansionistische Bedeutungsdimension des Wortes bleibt dann, einmal ausgebildet, über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart stabil (vgl. exemplarisch 1682, 1792, 1859, 1875, 1966, 2017a). Kolonie meint hier eine dauerhafte oder temporäre Ansiedlung in einem fremden, meist überseeischen Land, die zumeist in einer hierarchischen, meist politischen und/oder wirtschaftlichen Beziehung zum
(vgl. Brasch 2017, 27). Was sich allerdings ändert, ist die Bewertung des Kolonialismus als etwas zu Befürwortendes oder aber Abzulehnendes, was Auswirkungen auf die Konnotationen des Wortes Kolonie hat. So gab es bereits vor und während der Zeit des europäischen, darunter auch des deutschen, Kolonialismus und Imperialismus kolonialkritische Stimmen in wechselnder Intensität. Die dominante Deutung von Kolonialismus als etwas Abzulehnendes hingegen bildet sich erst vor dem Hintergrund der Dekolonisation und wohl auch der postkolonialenWGd Theoriebildung im Verlauf des 20. Jahrhunderts aus (1997a). Sie hat Rückwirkungen auf die Konnotation der entsprechenden Wörter des Wortfeldes – Kolonialismus etwa wird mit der Konnotation Mutterland
steht und die – insbesondere was den Grad der Abhängigkeit betrifft – unterschiedlich ausgestaltet werden kannabwertend
im Wörterbuch der Gegenwartssprache aufgenommen (WDG , 3, 2148DWDS; siehe auch KolonialismusWGd).
Übertragungen
Neben der auf das Altertum und der auf neu entdeckte, überseeische Territorien bezogenen machtpolitisch-expansionistischen Bedeutungsverwendung findet Kolonie im Verlauf des 18. sowie insbesondere des 19. Jahrhunderts auch in andere gesellschaftliche Teilbereiche Eingang. Im 18. Jahrhundert kann das Wort zunächst schlicht eine Gruppe von Menschen bezeichnen, ohne dabei zugleich an den Siedlungsaspekt gebunden zu sein oder ökonomische oder politische Implikationen zu haben (1726, 1785). Diese Verwendung ist heute nicht mehr gängig.
Im engeren Sinn an den Siedlungsaspekt gebunden ist dann die Verwendung für ganz unterschiedliche Formen von Siedlungen innerhalb und außerhalb Europas ebenso wie für ihre Einwohner (vgl. auch 3OED unter colony, n.). In Deutschland werden seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst vor allem das jeweilige Siedlungsgebiet sowie der soziale Verband der Hugenotten, die als Glaubensflüchtlinge aus Frankreich an verschiedene Orte Deutschlands kommen, als französische Kolonie bezeichnet (1703, 1898b). Seit etwa 1900 wird Kolonie auch für Stadtteile oder abgegrenzte Gebiete mit bestimmten Merkmalen verwendet, etwa im Fall von Villenkolonie (1913b) oder Kleingartenkolonie (1937).
Anknüpfend an die Bedeutungen Neugründung
und Siedlung
wird Kolonie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der sich formierenden Ökonomie aufgegriffen. Das Wort bezieht sich hier zunächst auf planmäßig neu gegründete Ackerbausiedlungen an vorher aufgrund der Bodenbeschaffenheit nicht bestellten Gebieten, deren Boden allererst urbar gemacht wird (1781).
An der Schnittstelle von Ökonomie und Sozialwesen zu verorten ist die Wortprägung ArmenkolonieWGd der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Form der Koloniegründungen innerhalb Deutschlands zielt darauf ab, sozial Schwache wieder in Arbeit zu bringen; zugleich wohnt ihr ein erzieherischer Aspekt inne (1835). Hierfür wird auch die Wendung innere Kolonie geprägt (vgl. etwa den entsprechenden Hinweis im Eintrag Colonien
in 5Pierer 4, 272–277), die zugleich den Übergang zur inneren Kolonisation markiert (vgl. auch KolonisationWGd). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Armenkolonie durch ArbeiterkolonieWGd, ebenfalls mit sozialem und erzieherischem Impuls, ersetzt. Daneben werden am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch solche Siedlungen, die Fabrikanten zur Unterbringung ihrer Arbeiter errichten lassen, als Arbeiterkolonien bezeichnet – so zum Beispiel die Arbeiterkolonie Margarethenhöhe in Essen (1899).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnen Bezeichnungen, die Siedlungen in überseeischen, insbesondere südamerikanischen Gebieten, als Kolonie bestimmen, die gleichwohl nicht im machtpolitischen Sinn Kolonien sind. Diese Verwendungen von Kolonie sind am Übergang zwischen einer nur auf den Siedlungs- und Sozialverband referierenden Bedeutung einerseits und einer auf den Auswanderungs- bzw. Kolonialdiskurs bezogenen Lesart andererseits zu verorten. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Kolonie Blumenau in Brasilien (1869, 1906). Zwar ist zunächst und in heutigen Verwendungen auch wieder eine Siedlung gemeint, in der Menschen gleicher Nationalität leben; vor allem zu Zeiten des deutschen Kolonialismus ist mit den südamerikanischen Gebieten aber – so etwa bei Friedrich Fabri – zugleich die Idee verbunden, über eine gezielte Auswanderungspolitik langfristig auch in die politische Verantwortung zu kommen und so die Herrschaft über das Land zu erreichen (vgl. hierzu etwa Fabri 1879).
Nicht zuletzt bezeichnet Kolonie unterschiedliche Gruppen gleichgesinnter Menschen, die gemeinsam leben und arbeiten, so insbesondere Künstlerkolonien und Lebensreformkolonien. Künstlerkolonie, verstanden als eine Gruppe gleichgesinnter Künstler, die wie etwa in Worpswede zusammen lebt und arbeitet, ist eine Wortbildung, die mindestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits nachzuweisen ist (1827, 1863) – auch wenn diese mit Koloniegründungen um 1900 en Vogue ist. Reformkolonien (1997b) hingegen treten erst um 1900 auf: Lebensreformkolonie bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die der modernen Gesellschaft gegenüber kultur- und sozialkritisch eingestellten sind, zusammen leben und so alternative Lebensformen erproben, wie beispielsweise auf dem Monte Verità (2012, vgl. auch 1917). In beiden Fällen verweist Kolonie zugleich auf den Ort ihres Wirkens selbst.
Kolonie in den Naturwissenschaften
Mitte des 19. Jahrhunderts wird Kolonie in verschiedene naturwissenschaftliche Teildisziplinen übernommen, so im europäischen Sprachraum zunächst in die Botanik und die Geologie (1849, 2017b; vgl. auch BioConcepts unter colony), dann mit der Übertragung auf Einzeller wie etwa Bakterien in der Mikrobiologie (1878) und mit der Übertragung auf die Tierwelt in der Zoologie (1866, 2017c).
Literatur
BioConcepts BioConcepts. The Origin and Definition of Biological Concepts. A Multilingual Database. (biological-concepts.com)
Brasch 2017 Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der „Kolonie“ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017.
Fabri 1879 Fabri, Friedrich: Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung. Gotha 1879.
Galsterer 2006 Galsterer, Hartmut: Coloniae. In: Brill’s New Pauly, Antiquity volumes edited by: Hubert Cancik and Helmuth Schneider, English Edition by: Christine F. Salazar, Classical Tradition volumes edited by: Manfred Landfester, English Edition by: Francis G. Gentry. Online zuerst: 2006. (doi.org)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
5Pierer Pierer’s Universal–Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Fünfte, durchgängig verbesserte Stereotyp-Aufl. Bd. 1–19. Altenburg 1867–[1873].
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Kolonie.