Wortgeschichte
Entlehnung, frühe Bezeugungen, Formvarianten
Bei dem Adjektiv revolutionär und der Personenbezeichnung Revolutionär handelt es sich um Entlehnungen aus dem Französischen, wo das Adjektiv bzw. das gleichlautende Substantiv révolutionnaire im Kontext der Französischen Revolution Anfang der 1790er Jahre neu gebildet werden. Welches der beiden Wörter nun zuerst ins Deutsche entlehnt wurde, ist aufgrund der zeitlichen Nähe nicht mit Sicherheit zu entscheiden (1792, 1794a). In deutschsprachigen Texten ist das Adjektiv zunächst parallel auch noch in der Herkunftssprache belegt, vor allem dann, wenn es sich im Französischen um feste Bezeichnungen wie beispielsweise régime révolutionnaire handelt (1793, 1794b). Im Übrigen sind in den ersten Jahrzehnten zahlreiche Schreibvarianten bezeugt, die von revolutionnaire/Revolutionnaire (1799, 1836) über revolutionaire/Revolutionaire (1807, 1830) bis zu stärker ins Deutsche integrierten Formen wie revoluzionär/Revoluzionär (1827, 1803) reichen.
Bedeutungserweiterungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die frühen Belege zeigen, dass beide Wörter – analog zu RevolutionWGd in der Bedeutung plötzlicher, tiefgreifender und oftmals gewalttätiger Vorgang der politischen Staatsumwälzung, der in der Regel vom Volk ausgeht
– zunächst vor allem auf die Französische Revolution bezogen werden (1796, 1797, 1800), mithin zunächst die Bedeutung auf die Französische Revolution bezogen
bzw. Anhänger, Teilnehmer der Französischen Revolution
tragen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mutmaßlich sachgeschichtlich vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse sowie wortgeschichtlich vor dem Hintergrund der semantischen Transformation, die das Substantiv Revolution in der politischen Verwendung erfährt, durchlaufen auch revolutionär und Revolutionär eine Bedeutungserweiterung und werden nunmehr auf Revolutionen im Allgemeinen bezogen (1832, 1834, 1855).
Ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert treten Verwendungen in den Bedeutungen bahnbrechend, neuartig
bzw. jemand, der auf seinem Gebiet Bahnbrechendes geleistet hat
auf (1867a, 1882, 1895). Im Französischen sind diese Verwendungen bereits Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt (vgl. TLFi unter revolutionnaire); im Deutschen sind diese Bedeutungen wohl ebenfalls zeitgleich zur politischen Bedeutungslinie anzusetzen (vgl. 1DFWB 3, 418–419 sowie 10Paul, 799).
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Revolutionär im Schlafrock
Wanders Deutsches Sprichwörterbuch bucht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Übrigen die Wendung Revolutionär im Schlafrock (und Pantoffeln):
Es sind damit solche Personen gemeint, welche einer bestehenden Gewalt entgegenwirken, ohne sich als offene Gegner mit ihr in Widerspruch zu setzen. Die Redensart hat in der Rede ihre Quelle, welche der preussische Minister des Auswärtigen, Freiherr von Manteuffel, am 8. Januar 1851 in der achten Sitzung der ersten Kammer gehalten hat. In Erwiderung auf Angriffe Camphausen’s bei Gelegenheit der Adressdebatte sagte er:Ich weiss sehr wohl, dass man über die hessische Angelegenheit heute verschiedene Ansichten hat; und ich bin nicht der Meinung, dass diese Frage zu einer Erörterung in dieser Versammlung führen dürfe. Als thatsächlich ist mir bekannt, dass die einen meinen, es handle sich um die grössten Willkürlichkeiten seitens der Regierung, während die andern der Meinung sind, es liege eine sehr gefährliche Revolution, eine Beamtenrevolution vor. (Unruhe.) Ja, meine Herren, ich erkenne eine solche Revolution für sehr gefährlich, gerade, weil man sich dabei in Schlafrock und Pantoffeln betheiligen kann, während der Barrikadenkämpfer wenigstens den Muth haben muss, seine Person zu exponiren.[1873]
Inwieweit es sich hier tatsächlich um eine in der gesprochenen Sprache weiter verbreitete Verbindung handelt, ist schwer nachzuvollziehen. In den Korpora des DWDS und dem Google Books-Korpus (Stand: März 2022) begegnet die Wendung eher selten (1868, 1919).
Bedeutungsverengung in kommunistischen und sozialistischen Kontexten
Für die semantische Entwicklung im 20. Jahrhundert nicht ohne Folge bleiben die Verwendungen sowohl von Revolution als auch von revolutionär im Marxismus und Kommunismus des 19. Jahrhunderts. Schon bei Karl Marx und Friedrich Engels begegnen die Wörter (1848a, 1867b). Vergleichbar der Verwendung von Revolution, das sowohl in einem noch weiteren Sinn, aber gerade auch in Bezug auf das politische Projekt des Kommunismus gebraucht wird (vgl. auch KWM 6, 11471)), begegnet insbesondere revolutionär sowohl in breiterer (1848b, 1867a, 1894) als auch in engerer, nunmehr auf den Kommunismus bezogenen Verwendung:
In Zeiten endlich wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Theil der herrschende Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Theil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Theil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Theil der Bourgeois-Ideologen, welche zum theoretischen Verständniß der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben. Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüber stehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt. [1848a]
Die Verwendung von revolutionär steht hier erkennbar nunmehr im Kontext des kommunistischen Projektes im Speziellen: Verwendungen dieser Art sind über das marxistisch-kommunistische Geschichtsverständnis, das zugleich politische und soziale mit ökonomischen Aspekten verbindet, grundiert. Die Entstehung der neuen Bedeutung von revolutionär ist mithin im größeren Kontext einer konzeptuellen Verengung des Revolutionsverständnisses innerhalb des marxistisch-kommunistischen Diskurses auf eine spezifische Vorstellung von Revolution entsprechend dem Geschichtsverständnis zu verstehen (1970a, 1970b). Vor diesem Hintergrund sind insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Sprache des Kommunismus und Sozialismus auch Verwendungen in der Bedeutung sozialistisch, kommunistisch
bzw. Sozialist, Kommunist
(1971a) zu beobachten, was auch in der Außenperspektive so wahrgenommen wird (1970c).
Politische Besetzungen im 20. Jahrhundert
Die wortgeschichtliche Entwicklung ist im 20. Jahrhundert des Weiteren durch politische Besetzungen der Wörter geprägt. So begegnet revolutionär in der Sprache des Nationalsozialismus auch gerade in Bezug auf die Jahre um 1933 als positiv belegte Selbstbezeichnung (1927, 1933). Diese Besetzung und Ausdeutung wird auch von Zeitgenossen – kritisch – beobachtet (1930). Nicht zuletzt begegnen die Wörter revolutionär und Revolutionär in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Bezug auf Protest-WGd und alternativeWGd Bewegungen (1968, 1971b, 1974, 1983). Bezeugungen in diesen Kontexten sind – gerade im linken politischen Spektrum in der Nachfolge der 68er – sicher nicht ohne Einfluss der kommunistischen Verwendungen zu verstehen.
Anmerkungen
1) Das HKWM hat die Lemmata Revolution, revolutionärer Attentismus, revolutionäre Realpolitik, revolutionärer Syndikalismus und revolutionäres Subjekt angesetzt, siehe HKWM online unter R, die entsprechenden Bände sind jedoch noch nicht publiziert.
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
HKWM Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug. Bd. 1 ff. Hamburg 1994 ff.
KWM Haug, Wolfgang Fritz/Labica, Georges (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Berlin u. a. 1983.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu revolutionär, Revolutionär.