Wortgeschichte
Von Revolutzer bis Revoluzzer: Erstbezeugungen und Formvarianten des Substantivs
Das Wort Revoluzzer ist seit Ende des 18. Jahrhunderts belegt (1795, 1803). Es wird damit zu Zeiten der Französischen Revolution, die wortgeschichtlich für die gesamte Wortfamilie rund um das Wort RevolutionWGd nicht ohne semantische Folgen bleibt, geprägt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dominiert zunächst die Form Revoluzer, daneben ist aber auch Revolutzer bezeugt (1879; vgl. daneben die entsprechenden Wortverlaufskurven des Google NGram Viewers). Erst im 20. Jahrhundert setzt sich Revoluzzer als dominante Formvariante durch (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Ursprünge im Dreiländereck?
Sowohl Pfeifer als auch das 1DFWB geht davon aus, dass das Wort um 1800 wohl in Anlehnung an das italienische rivoluzionario entsteht (Pfeifer unter RevoluzzerDWDS sowie 1DFWB 3, 422–423; vgl. zu rivoluzionario auch GDLI XVI, 1087). Insofern allerdings zahlreiche frühe Belege dem elsässischen und schweizerischen Raum zuzuordnen sind (1795, 1800a, 1800b; vgl. daneben allerdings auch etwa 1794), ist auch ein französischer Einfluss zumindest nicht auszuschließen. Für einen Einfluss des Französischen spricht nicht zuletzt, dass Revoluzzer gerade zu Beginn auch in den Zusammensetzungen Kontre-Revoluzer und Gegen-Revoluzer begegnet (1795, 1800a), dies wohl in Anlehnung an das aus dem Französischen entlehnte KonterrevolutionärWGd bzw. die Lehnbildung GegenrevolutionärWGd.
Ohnehin scheint es sich bei Revoluzzer mindestens noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um ein überwiegend im schweizerischen Sprachraum verwendetes Wort zu handeln (1826, 1832a, 1845; vgl. mit ähnlichen Beobachtungen bereits Seidler 1955, 333–335, hier insb. 334, der das Wort für das 19. Jahrhundert dem süddeutschen, insbesondere schwäbischen, alemannischen und elsässischen Sprachraum zuordnet). Das Wort wird im Übrigen auch von Zeitgenossen als spezifisch schweizerdeutsches wahrgenommen (1828, 1832b).
Bedeutungsentwicklung zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg
Zunächst wird Revoluzzer wohl bedeutungsgleich zu RevolutionärWGd verwendet (1795, 1803), das seinerseits zunächst Anhänger bzw. Teilnehmer der Französischen Revolution, dann auch von Revolutionen im Allgemeinen bezeichnet. Mindestens im Schweizerdeutschen ‒ das zeigt die entsprechende Buchung mit den Bedeutungen herabsetzende Bezeichnung für Revolutionär
und wer immer schimpft
im Schweizerischen Idiotikon (Idiotikon VI, 650) – entsteht bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts daneben auch eine Verwendung, die abwertend ist.
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts begegnet Revoluzzer langsam auch im gesamtdeutschen Sprachraum (1873, 1875). Auffällig sind verschiedene Bezeugungen in religiösen Kontexten (1856, 1859b, 1859a). Spätestens ab der Jahrhundertwende ist das Wort auch in Zusammenhang mit der Sozialdemokratie belegt (1914c, 1914b); in der Schweiz erscheint 1915/1916 eine Zeitschrift, in der Revoluzzer namengebend wird (Der Revoluzzer. Sozialistische Zeitung für Bildung und Unterhaltung). Bekannt geworden ist Erich Mühsams Gedicht Der Revoluzzer. Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet (1907). Hier zeigt sich deutlich, wie Revoluzzer abwertend in der Bedeutung jemand, der sich als Revolutionär gebärdet, ohne dass er dabei ernst genommen wird
verwendet wird. Überhaupt findet das Wort nun vermehrt auch in der Literatur Verwendung (1906, 1905); Walther Schulte vom Brühl schreibt gar einen Roman mit dem Titel Die Revolutzer (Leipzig 1905).
Revoluzzer, Revoluzzertum und die Protestbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet Revoluzzer auch in Zusammenhang mit den Protest- und Alternativbewegungen der Zeit (1967, 1968b, 1973). Revoluzzer erfährt hier mithin eine Bedeutungserweiterung, kann nun auch jemand, der sich gegen Normen und Konventionen auflehnt
bedeuten und rückt so in die Nähe anderer Bezeichnungen für Sozialfiguren der Zeit wie beispielsweise 68erWGd oder ProtestlerWGd (1969, 1994, 2000a). Gerade in Verwendungen in der weiten Bedeutung kann das Wort nicht zuletzt auch die Implikation jugendlich
tragen (1960, 1999, 2010a). Verzeichnet werden kann zu dieser Zeit zudem ein signifikanter Anstieg der Verwendungsfrequenz (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Daneben begegnet ab der Mitte des 20. Jahrhunderts mit Revoluzzertum (1969, 2009b) eine weitere Wortbildung im deutschen Sprachraum, die zwar seit Ende des 19. Jahrhunderts schon vereinzelt belegt ist (1893, 1909), aber erst jetzt weitere Verbreitung findet (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Die Bildung aus Revoluzzer und dem Suffix -tum trägt – entsprechend Substantivbildungen mit -tum auf der Basis von Personenbezeichnungen im Allgemeinen, wobei sich die Basissubstantive im Übrigen häufig auf negativ bewertete Ausdrücke beziehen (vgl. Fleischer/Barz 2012 224) – die Bedeutung Art des Verhaltens des Revoluzzers
. Revoluzzertum kann seinerseits dem Alternativmilieu (1974) oder einer bestimmten Phase der Jugend zugeschrieben werden (2000b, 2009a) ohne dass es diese Implikationen notwendig tragen muss (2010b, 2017).
Revoluzen, revolutzgen, revoluzzen. Das Verb
Im Schweizerdeutschen ist bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch das Verb revoluzen bzw. revoluzzen belegt (1809, 1834) – und zwar, was eher ungewöhnlich ist, zeitlich wohl erst nach der Bildung des Substantivs. Anfang des 20. Jahrhunderts bucht das Schweizerische Idiotikon auch das Verb in den Formen revolutzen, revolutzgen und gibt als Bedeutungen sich auflehnen, einen Aufstand machen
sowie aufbegehren, schimpfen
an (Idiotikon VI, 650).
Im weiteren Verlauf begegnet das Verb revoluzzen auch im gesamtdeutschen Sprachraum in dem Substantiv Revoluzzer entsprechenden Bedeutungen (1914a, 1968a, 2014). Insgesamt bleibt es gegenüber dem Substantiv allerdings bis in die Gegenwart hinein deutlich weniger verbreitet (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
GDLI Battaglia, Salvatore: Grande dizionario della lingua italiana. Vol. 1–21. Turin 1971–2002. (gdli.it)
Idiotikon Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bd. 1 ff. Basel/Frauenfeld 1881 ff. (idiotikon.ch)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Seidler 1955 Seidler, Franz Wilhelm: Die Geschichte des Wortes Revolution. Ein Beitrag zur Revolutionsforschung. Inaugural-Dissertation, LMU München. München 1955.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu revoluzzen, Revoluzzer, Revoluzzertum.