Wortgeschichte
Das Adjektiv reaktionär: Entlehnung aus dem Französischen
Das Adjektiv reaktionär ist seit den 1830er Jahren im Deutschen belegt (1835). Es wird aus dem Französischen und wohl im Zusammenhang mit der Julirevolution entlehnt (vgl. Pfeifer unter reaktionärDWDS sowie 1DFWB 3, 177–178), wo réactionnaire Ende des 18. Jahrhunderts mit der Bedeutung an politisch überholten Gegebenheiten festhaltend, fortschrittsfeindlich
entsteht (vgl. auch TLFi unter réactionnaire). Ableitungsgrundlage im Französischen ist das ältere Substantiv réaction, das seinerseits während der Französischen Revolution die neue Bedeutung Bewegung gegen die Meinung der Mehrheit der Bürger; politische Partei (oder Parteiengruppe), die sich gegen Demokratie und sozialen Fortschritt stellt
annimmt (vgl. Pfeifer unter ReaktionDWDS). Damit sind im französischen Sprachraum réaction und réactionnaire semantisch zu dieser Zeit noch eng mit révolution verknüpft.
Reaktion: Semantische Wegbereitung im Deutschen
Nun wird das Adjektiv reaktionär zwar erst in den 1830er Jahren ins Deutsche übernommen, es gibt allerdings bereits vorher semantische Wegbereiter auch im Deutschen. Das Substantiv Reaktion ist in deutschsprachigen Quellen in lateinischer Form mindestens seit dem 17. Jahrhundert belegt (1683), ab Mitte des 18. Jahrhunderts auch in der Lesart (durch Einwirkung von etwas hervorgerufene) entgegengerichtete Bewegung, Gegen-, Rückwirkung; Widerstand, Gegendruck
(1771; vgl. 1DFWB 3, 174–177). Dem 1DFWB zufolge wird Reaktion zudem bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert auch übertragen für Widerstand, Gegendruck, -strömung gegen eine geistige, religiöse o. ä. Bewegung, Tendenz oder Richtung, auch im politischen Bereich
verwendet und erfährt im frühen 19. Jahrhundert entsprechend dem in Frankreich während der Revolutionszeit aufgetretenen Bedeutungswandel eine Bedeutungsverengung: In der politischen Bedeutungslinie bedeutet Reaktion seither zentral politischer Kampf gegen Neuerung und Fortschritt; fortschrittsfeindliche Bestrebungen und Mächte
(1848a, 1946; vgl. 1DFWB 3, 174–177 sowie zum Bedeutungsspektrum des Substantivs insgesamt DWDS unter ReaktionDWDS). Mit dieser Bedeutung wird Reaktion zum abwertenden politischen Schlagwort; verwendet wird es zudem als historische Bezeichnung für die Rückschrittspartei
und als Epochenbezeichnung (vgl. DWDS unter ReaktionDWDS).
Semantik
Das Adjektiv reaktionär trägt seit seiner Entlehnung zentral die Bedeutung an politisch überholten Gegebenheiten festhaltend, fortschrittsfeindlich
(1835). In dieser allgemeinen Bedeutung ist das Wort seit seiner Entlehnung grundsätzlich stabil (1895, 1970a, 2011). Zugleich ist der Gebrauch hinsichtlich der mit ihm verbundenen genuin politischen Implikationen vom jeweiligen politischen Standpunkt des Sprechers abhängig (vgl. Strauß 1989, 335). So kann sich Reaktion im 19. Jahrhundert etwa vom demokratischen Standpunkt aus auf den Absolutismus beziehen (1848b), zu Zeiten der DDR vom sozialistischen Standpunkt aus auf den Kapitalismus bzw. den kapitalistischen Westen (1956, 1978; vgl. auch die entsprechende Bedeutungsangabe in WDG unter ReaktionDWDS: abwertend Widerstand, Kampf historisch überlebter Klassen gegen den gesellschaftlichen Fortschritt, gegen revolutionäre gesellschaftliche Umgestaltungen, gegen das Wirken der progressiven und revolutionären Klassen: die Hauptkraft der R. in der Gegenwart ist das System des staatsmonopolistischen Kapitalismus
). Vorbereitet werden solche Verwendungen im DDR-Sprachgebrauch sicherlich auch durch ältere Verwendungen des Wortes reaktionär namentlich von Marx und Engels (1848c). Der Kapitalismus wird zeitgleich vom westlichen Standpunkt aus wiederum nicht als reaktionär bewertet. Gemeinsam ist allen diesen Verwendungen, dass sie aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus mit reaktionär das Festhalten an politisch überholten Gegebenheiten und damit Fortschrittsfeindlichkeit adressieren; sie unterscheiden sich gleichwohl in der jeweiligen inhaltlichen Vorstellung dessen, was als überholt gilt.
Die Standortbezogenheit drückt sich nicht zuletzt auch in in Abhängigkeit von der jeweiligen Sprecherposition wechselnden Synonyme und Antonyme aus. So zeigt sich nicht nur in der französischen Entlehnungsgrundlage, sondern auch in frühen deutschsprachigen Bezeugungen des Adjektivs reaktionär die zunächst enge semantische Bindung an RevolutionWGd bzw. revolutionärWGd, das hier häufiger als Antonym begegnet (1835, 1848c). Daneben begegnet reaktionär in den Quellen des 19. Jahrhundert häufiger gemeinsam mit absolutistisch (1844, 1848d) oder monarchistisch (1883, 1920). Mindestens partiell wird reaktionär zudem synonym oder auch als Steigerung zu konservativ verwendet (1870a, 1960). Zu den Antonymen von reaktionär zählen unter anderem liberal (1885), fortschrittlich (1914) und progressiv (1970b).
Das Adjektiv wird im Übrigen, wie schon das Substantiv Reaktion, als abwertendes Schlagwort vornehmlich im politischen, aber auch im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich verwendet (vgl. Strauß 1989, 338; 1870b, 1905). Daneben stehen eine wertneutrale Bedeutung, in der Reaktion eine bestimmte Phase der deutschen Geschichte bezeichnet (vgl. Strauß 1989, 336), sowie weitere, nicht dem Themenfeld Politik und Gesellschaft zuzuordnende Bedeutungen für das Substantiv (vgl. hierzu etwa 1DFWB 3, 174–177).
Die Personenbezeichnung Reaktionär
Neben dem Adjektiv reaktionär ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts zudem die Personenbezeichnung Reaktionär Person, die der Reaktion anhängt; streng konservative, rückschrittliche Person
belegt (1848e, 1901, 1983). Sie wird ebenfalls aus dem Französischen entlehnt und ist gleichbedeutend zu reactionnaire (vgl. Pfeifer unter ReaktionärDWDS). Es handelt sich hier um eine abwertende Fremdbezeichnung (1889, 1987). Insgesamt ist die Personenbezeichnung weniger häufig belegt als das Adjektiv (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google Books Ngram Viewers).
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Strauß 1989 Strauß, Gerhard: Politik und Ideologie. In: Gerhard Strauß/Ulrike Haß/Gisela Harras (Hrsg.): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin/New York 1989, S. 25–394.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu reaktionär, Reaktion, Reaktionär.