Wortgeschichte
Seilschaft am Berg
Das von Seil abgeleitete feminine Substantiv Seilschaft kommt ursprünglich aus dem Bereich des Bergsports und bezeichnet dort eine aus mindestens zwei Personen bestehende Klettergruppe, die bei einer Bergtour mit einem gemeinsamen Sicherheitsseil verbunden ist. Die Wortbildung Seilschaft mit dem Suffix -schaft ist insofern auffallend, als sie nicht wie sonst üblich von einer Personen- oder Kollektivbezeichnung (wie bei Mannschaft, Sippschaft), sondern von einer Gegenstandsbezeichnung abgeleitet ist (vgl. Fleischer/Barz 2012, 221).
Seilschaft findet sich seit der Mitte der 1920er Jahre zunächst in Veröffentlichungen der deutschsprachigen Alpenvereine (1926, 1931). Erst in den 1950er Jahren ist das Wort in Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ZEIT und dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL bezeugt, es dauert demnach fast 30 Jahre bis Seilschaft jenseits der Publikationen der Alpenclubs standardsprachlich gebräuchlich wird (1952, 1956, 1957a).
Zuweilen bezeichnet Seilschaft weiter gefasst eine Gruppe, die gemeinsam eine Bergtour macht, aber nicht unbedingt mit einem Seil verbunden ist. Eine Seilschaft kann auch seilfrei gehen – dies ist schon darin begründet, dass Seilschaften ihr gemeinsames Seil auf einer Tour zwischenzeitlich aus Sicherheitsgründen ablegen müssen (1957b, 2008a).
Mehr erfahren
Die Seilschaft als Sicherungs- und Gefahrengemeinschaft
Gewöhnlich gehen Bergsteiger, wenn sie die Sicherheitstechnik des Gehens am Seil
(2005a) bei ihren Touren anwenden, in Zweier-, Dreier- oder Viererseilschaften (1931, 1983). Da das Leistungsniveau der Gruppenmitglieder unterschiedlich sein kann, muss sich die Gesamtgruppe nach dem Seilschaftsmitglied mit der geringsten Leistungsfähigkeit richten. Kurze und eindeutige Seilkommandos akustischer oder visueller Art sollen zudem die reibungslose Kommunikation der Seilpartner auch in extremen Situationen gewährleisten (1973).
Die Seilschaft ist in den Bergen zum einen eine Sicherungsgemeinschaft, zugleich aber auch eine Gefahrengemeinschaft. Das die Bergsteiger miteinander verbindende Seil stellt eine Absicherung gegen mögliche Abstürze dar, kann jedoch auch riskant sein oder sogar zum Verhängnis werden, da der Sturz eines einzelnen Teilnehmers im ungünstigsten Fall zu einem Seilschaftsabsturz bzw. Seilschaftssturz (1992a) bzw. Mitreißunfall (2012) führen kann. Diese schweren Unglücksfälle erlangen oft traurige Berühmtheit, wie zum Beispiel der dramatische Seilschaftsabsturz bei der ersten Matterhorn-Besteigung im Jahr 1865, bei dem vier Bergsteiger den Tod fanden (vgl. 1894a; Kreitling 2015, Kreitling 2017).
Von Seilkolonnen und Seilpartien: das Gehen am Seil
Älter als das Wort Seilschaft ist die angewandte Technik, dass sich mehrere Personen bei Bergtouren mit einem Seil verbinden und sich so gegenseitig gegen Stürze absichern (1864, 1865). In den Jahrbüchern des Schweizer Alpen-Clubs findet sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür häufig die auch heutzutage noch gebräuchliche Verbindung am Seil gehen (1866, 1894b; gegenwartssprachlich auch: im Seil gehen 2002a).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind verschiedene Zusammensetzungen bezeugt, die sich auf die Technik des gemeinsamen am Seil Gehens
beziehen: Seilkolonne (1883a), Seiltour (1883b), Seilpartie (1893) und Seilgängerei (1898). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen dazu: Seilverbindung (1914), Seilgruppe (1919), Seilgemeinschaft (1929) und Seilgesellschaft (1941). Einige dieser Zusammensetzungen kommen auch jünger noch sporadisch vor, die Bildung Seilschaft ist allerdings seit den 1930er Jahren die übliche und eindeutig dominierende Bezeichnung für die durch ein Seil verbundene, sich gegenseitig absichernde Bergsteigergruppe
.
Für die Gruppenmitglieder einer alpinen Seilschaft finden sich seit dem 19. Jahrhundert vorwiegend Zusammensetzungen mit Seil- als Bestimmungswort (Seilgefährte, -genosse, -kamerad, -partner); Bildungen mit dem Bestimmungswort Seilschaft- wie Seilschaftskamerad (1989), Seilschaftspartner (1992b) und Seilschaftskollege (2005b) sind jünger und vergleichsweise selten. Nur bei den Zusammensetzungen Seilführer (1966a) und Seilschaftsführer (1968a) gibt es bezüglich der Verwendungshäufigkeit kaum Unterschiede. Entsprechende movierte Formen wie Seilschaftsführerin (2015) und Seilschaftspartnerin (2018) sind bisher kaum zu finden.
Seilschaft wird politisch
Um 1960 herum bilden nicht mehr nur Bergsteiger und Kletterer Seilschaften, man begegnet seither dem Wort Seilschaft auch außerhalb des ursprünglich alpinen Verwendungszusammenhangs. Von Pariser Seilschaften
berichtet der Verfasser in einem Zeitungsbericht über die – durch Chruschtschows Schuh-Anekdote
in die Geschichte eingegangene – UN-Vollversammlung in New York (vgl. Geißler 2005).
Bleibt also Chruschtschow, der Dritte im Bunde der Pariser Seilschaft (der Vierte, Frankreichs General de Gaulle, hatte es für seiner unwürdig befunden, vom eigenen Gipfel seiner Unnahbarkeit herabzusteigen und auf der turbulenten weltpolitischen Hochebene zu New York seine noble Stimme hören zu lassen) [1960].
Hier geht es nicht mehr um Seilschaften am Berg, sondern um einen politischen Bund. Der Textausschnitt zeigt beispielhaft, wie durch die Verwendung des Worts Seilschaft im Zusammenhang mit weiteren bereits etablierten bildhaften Ausdrücken und Metaphern aus der Bergwelt (z. B. erklimmen, Gipfel, herabsteigen, Hochebene, hochkämpfen, ins Tal reißen) ein sprachliches Bild entsteht, das den zu beschreibenden Sachverhalt durch einen komplexen Vergleich veranschaulichen soll (vgl. 1966b, 1966c, 1979a, 1979b, 1982a).
In den 1960er Jahren wird die Verwendung des Worts Seilschaft außerhalb des Bergkontextes noch als neu und ungewöhnlich empfunden, was sich durch die mehrfach anzutreffenden sogenannten Seilschaften
(1964) und auch durch Markierungen mit Anführungszeichen zeigt (1968b). Diese distanzierende Kennzeichnung nimmt mit der Gebrauchszunahme von Seilschaft in den neuen Kontexten ab. Immer häufiger liest man nun – zur Zeit der gesellschaftskritischen Protestbewegung – von Seilschaften in der Politik (1966b), im Kultur- und Medienbereich (1971, 1979c) und an Universitäten (1978a). Seilschaften nennt man das jetzt
stellt der damalige Abgeordnete Helmut Kohl während einer Bundestags-Debatte 1978b unmissverständlich fest. Das Wort geht mit seiner neuen Lesart durch gemeinsame Interessen verbundene Personen, die sich gegenseitig begünstigen
in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Die politischen Seilschaften (1979d) mit ihrer abwertenden Konnotation sind nun geläufig und Seilschaft steht seitdem gleichwertig neben den älteren bedeutungsverwandten Wörtern KlüngelWGd und CliqueWGd (z. B. 1982b, 2002b).
Die Furcht vor alten Seilschaften
Viele Menschen in den neuen Bundesländern empfinden heute Angst und Zorn, wenn sie das Wort
– mit diesen Worten beginnt Rainer Eppelmann 1993a als Vorsitzender der Enquete-Kommission zur Seilschaften
hörenAufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland
die öffentliche Anhörung zu Seilschaften in den neuen Bundesländern
(vgl. Gast 1993). Die aus ehemals führenden Vertretern des DDR-Systems gebildeten und zumeist als alte Seilschaften bezeichneten Gruppierungen werden als größeres gesellschaftliches Problem des wiedervereinigten Deutschlands wahrgenommen. Es gibt kein Wort in den fünf neuen Ländern, das soviel Schrecken, soviel Hilflosigkeit hervorruft wie das von den
schreibt z. B. 1990a die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Artikel über die Probleme mit den Seilschaften der früheren Machthaber in Ostdeutschland.alten Seilschaften
der SED
Insbesondere die Kollokation alte Seilschaften ist in der Presse nach der Wiedervereinigung sehr präsent (1990b, 1992c; vgl. Hoffmann 1992), ferner finden sich Verbindungen wie rote, sozialistische und stalinistische Seilschaften (1990c, 1991a, 1991b), Seilschaften der Ehemaligen (1990d) und Zusammensetzungen wie SED-Seilschaften (1990e) und Stasi-Seilschaften (1994). Das für die alten und neuen Bundesländer erhoffte Zusammenwachsen, was zusammengehört
scheint in Bezug auf neue Seilschaften (1991c) und Ost-West-Seilschaften (1991d) gewissermaßen erfolgreich zu sein.
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Seilschaft“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Die DWDS-Wortverlaufskurve zeigt einen sprunghaften Gebrauchsanstieg des Worts Seilschaft Anfang der 1990er Jahre mit einem Höhepunkt der Bezeugung im Jahr 1993. Seilschaft entwickelt sich in der unmittelbaren Nachwendezeit zu einem prominenten Wort, das bis heute untrennbar mit den verschworenen Gruppierungen von Stasi und SED verbunden ist (vgl. 1993b) und somit zu den Schlüsselwörtern der Wendezeit
gehört (vgl. Schlüsselwörter 1997, 340, online).
Ein Absturz
der Seilschaften?
Teamgeist, Vertrauen, Zuverlässigkeit, Kameradschaft – für diese Werte steht die sich gegenseitig sichernde und unterstützende Seilschaft am Berg sinnbildlich. Mittlerweile ist die positive Konnotation des Worts Seilschaft jedoch in den Hintergrund getreten und man assoziiert wohl eher dies: ungerechtfertigte Begünstigungen und Bevorteilungen, intransparente Praktiken, Protektion, verschworene Gemeinschaften. Durch die Übertragung auf den politischen Bereich hat der neutrale oder positiv besetzte Bergsteiger-Ausdruck seit den 1960er Jahren eine pejorisierende Umwertung erfahren, die sich um 1980 herum in der Standardsprache etabliert. Seilschaft wird zu einer negativ besetzten Fremdbezeichnung; anders als z. B. bei dem bedeutungsähnlichen Wort NetzwerkWGd, würde wohl kaum jemand von sich selbst sagen, Mitglied einer (politischen o. ä.) Seilschaft zu sein.
Auch wenn die Verbindungen akademische (2005c), verschworene (2008b), linke (2007), undurchsichtige (2016), korrupte (2019a) oder rechtsextreme Seilschaften (2019b) mittlerweile weit häufiger in der Presse anzutreffen sind als die Verbindung alpine Seilschaft, ist die zuweilen formulierte Befürchtung, das schöne Wort der Bergsteiger
würde seine Daseinsberechtigung im Bergkontext verlieren, unbegründet (Mäder 2019, vgl. auch Bebermeyer 1994), denn auch im alpinen Bereich ist das Wort Seilschaft nach wie vor ungebrochen gebräuchlich (2013, 2020). Vermutlich lässt der Ausdruck zwar heutzutage nicht mehr für jeden Sprecher seine Herkunft erkennen, dennoch muss man keineswegs von Verständnisschwierigkeiten bei der Verwendung des polysemen Worts ausgehen. So kommen auch gegenwärtig anzutreffende Komposita wie Männerseilschaft (2003, 2010) oder Frauenseilschaft (2011, 2017) in beiden Bedeutungen vor, ohne dass es zu Irritationen kommt.
Literatur
Bebermeyer 1994 Bebermeyer, Renate: „Sozialverträglich“ und „Seilschaft“. In: Sprachspiegel 50/4 (1994), S. 105–110.
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Gast 1993 Gast, Wolfgang: Seilschaft – was ist das? Enquetekommission: Schaden durch Vereinigungskriminalität acht Milliarden. In: taz, 28. 9. 1993, S. 4. (taz.de)
Geißler 2005 Geißler, Ralf: Der Schuh auf dem UNO-Tisch. Vor 45 Jahren wurde Nikita Chruschtschow wütend. Deutschlandfunk Kultur – Kalenderblatt 13. 10. 2005. (deutschlandfunkkultur.de)
Hoffmann 1992 Hoffmann, Wolfgang: Ein Maulwurf in der Treuhand. SED-Vermögen: Alte Seilschaften stehen unter Verdacht, nach der Wende Millionen veruntreut zu haben. In: Die Zeit, 24. 7. 1992, Nr. 31. (zeit.de)
Kreitling 2015 Kreitling, Holger: Die dramatische Erstbesteigung des Matterhorns. In: Die Welt (online), 12. 7. 2015. (welt.de)
Kreitling 2017 Kreitling, Holger: Die falsche Sicherheit der Seilschaft. In: Die Welt (online), 28. 8. 2017. (welt.de)
Mäder 2019 Mäder, Claudia: Als die Seilschaft politisch wurde, kam das schöne Wort der Bergsteiger zuschanden. In: Neue Zürcher Zeitung (online), 3. 9. 2019. (nzz.ch)
Paris 1991 Paris, Rainer: Solidarische Beutezüge. Zur Theorie der Seilschaften. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 45/513 (1991), S. 1167–1174 (Nachdruck in: Rainer Paris: Stachel und Speer: Machtstudien, Frankfurt/Mai 1998, S. 139–151).
Schlüsselwörter 1997 Herberg, Dieter/Doris Steffens/Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90. Berlin/New York 1997. (owid.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Seilschaft, alte Seilschaft.