Wortgeschichte
Die Cliquenwirtschaft treibt ihr Unwesen
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und somit 100 Jahre nach der Entlehnung des Wortes CliqueWGd ist die Wortbildung Cliquenwirtschaft (auch in der Schreibung Kliquenwirt(h)schaft) in deutschen Texten nachgewiesen. Das Wort wird von Anfang an stets in abwertender Weise verwendet und beschreibt die auf den eigenen Vorteil ausgerichteten Handlungen und Verhaltensweisen von Cliquen
. Gleichgesinnte Personen tun sich zusammen, um in der Gemeinschaft ihre Interessen und Ziele besser zu verfolgen und umzusetzen. Und wenn es dabei nur um den eigenen Nutzen geht, wenn sich eine verschworene Gruppe nach außen hin abschottet und wenn möglicherweise Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber dazukommt – dann wird von Cliquenwirtschaft gesprochen.
Die frühen Belege beziehen sich auf das als negativ angesehene Wirken von Cliquen in literarischen und künstlerischen Kreisen. So wird 1851 in einer Rezension der neugegründeten Berliner Musik-Zeitung Echo das Bekämpfen der Cliquen=Wirthschaft
, die im Musikwesen ihr Unwesen treibe
, thematisiert. Ein weiterer früher Beleg aus dem Jahr 1857 findet sich in einem Buch über das deutsche Theater, die Wortbildung wird hier in der Verbindung litterarische Kliquenwirthschaft auf ungerechte Beurteilungen von Theaterkritikern bezogen:
da finden wir denn geradezu Parteien in der Kritik, in dem diese oder jene Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin oder die männlichen Kollegen hier bis in den Himmel hinein gelobt und dort wiederum wer weiß wie sehr herabgezogen werden. Hier werden Talentlose protegiert und dort Begabte nachsichtslos verfolgt, und ebenso wird den Dichtern gegenüber nur zu oft verfahren, indem die litterarische Kliquenwirthschaft das der Klique Angehörige eifrig vertheidigt, und das außerhalb derselben Liegende verdammt.
Kritik an literarischen und künstlerischen Netzwerken hat im deutschsprachigen Raum Tradition. Ein überzeugter Kritiker der Cliquenwirtschaft (auch Cliquenwesen, Cliquent(h)um) aller Art war der angriffslustige österreichische Publizist Karl Kraus, der in seiner Zeitschrift Die Fackel alle Formen von Cliquenwirtschaft anprangert (1900; vgl. 2010b).
All das, was Karl Kraus um die Jahrhundertwende kritisiert, wird auch heutzutage noch mit dem Ausdruck Cliquenwirtschaft verbunden. Neben den als Cliquenwirtschaft interpretierten Aktivitäten in Kultur und Medien (1966a, 2001, 2003) und im akademischen Umfeld (1971, 1994) wird das Wort auch mit Bezug auf den Bereich des Sports (2004) und auf die Kirche häufig verwendet (vgl. Schmalz 2014). Überwiegend findet sich Cliquenwirtschaft in politischen Kontexten, auf die herrschenden Kreise, das EstablishmentWGd und die ElitenWGd bzw. das elitäreWGd Verhalten von Machthabern bezogen. Zudem bezeichnet Cliquenwirtschaft auch das Bestreben bestimmter Gruppierungen innerhalb von politischen Parteien, Macht auszuüben und Einfluss zu nehmen (1997, 2011a, 2014a, 2015, 2018).
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Wortbildungen mit -wirtschaft
Semantisch vergleichbare Wortbildungen mit dem Zweitelement -wirtschaft wie in Cliquenwirtschaft finden sich bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts. Die älteste Bildung Hurenwirtschaft (1590, 1698) wird im Deutschen Rechtswörterbuch mit der Bedeutungsangabe Hurenwesen
genannt (s. DRW, 6, 120). Die historischen Korpora des DWDS enthalten weitere -wirtschafts-Wortbildungen in Texten des 19. Jahrhunderts:
Pöbelwirtschaft (1832), Kupplerwirtschaft (1840), MätressenwirtschaftWGd (1847), GünstlingswirtschaftWGd (1849), Pfaffenwirtschaft (1852), Konkubinenwirtschaft (1853), Beamtenwirtschaft (1856), Soldatenwirtschaft (1854), VetternwirtschaftWGd, Judenwirtschaft (1897).
Als Basis für die Bedeutung des Elements -wirtschaft in den hier behandelten Wortbildungen kann eine gegenwartssprachlich nicht mehr präsente allgemeine Bedeutung Tun und Treiben
des Substantivs Wirtschaft angenommen werden (vgl. 20Kluge, 863), die im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm folgendermaßen beschrieben wird:
hantierung, art und weise des vorgehens und verhaltens; innere ordnung, structur einer sache; lebensweise; tun und treiben, insbesondere solches unordentlicher, verworrener art. […] damit verbindet sich oft, besonders im gegenwärtigen sprachgebrauch, eine negative wertung dieser mannigfaltigkeit […]. [s. 1DWB, 14,2, 677]
Durch das Anfügen des Elements -wirtschaft an Personen- oder Gruppenbezeichnungen werden Kollektiva gebildet, die die Gesamtheit der Vorgänge, die mit diesen Gruppen – ihren Aktivitäten und Verhaltensweisen – zusammenhängen, ihr Tun und Treiben
negativ bewerten. Häufig ist bereits das Erstglied der Wortbildung negativ konnotiert (Hure, CliqueWGd), das Basiswort kann aber auch eine neutrale Grundbedeutung haben (Beamte, Vetter).
In den hier behandelten Wörtern ist -wirtschaft als Wortbildungselement mit pejorativer Funktion im Übergangsbereich zwischen Komposition und Ableitung anzusehen.1)
Das Element -wirtschaft ist reihenbildend und trägt im Vergleich zu dem frei oder in Zusammensetzungen (wie Energiewirtschaft, Hauswirtschaft) vorkommenden substantivischen Wort Wirtschaft eine relativ abstrakte Bedeutung. Das Wortbildungsmuster ist seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig erkennbar und auch gegenwartssprachlich produktiv.
Die ebenfalls abwertenden Bildungen Zettelwirtschaft (Durcheinander an Notizen und unsortierten Zetteln u. ä.
) oder Junggesellenwirtschaft (der ungeordnete Haushalt eines Junggesellen
) sind von Cliquenwirtschaft u. a. semantisch zu unterscheiden, da in diesen Wörtern der Aspekt der Unordnung
und des Durcheinanderseins
ausgedrückt wird, der in Wortbildungen wie Cliquen-, Günstlings- oder Vetternwirtschaft nicht im Vordergrund steht.
Nach dem Wortbildungsmuster der bereits genannten etablierten Ausdrücke werden im 20. Jahrhundert weitere Wortbildungen mit -wirtschaft und einem Basiswort aus dem Wortfeld Verwandte
gebildet. Die familiäre Verbindung der begünstigten bzw. begünstigenden Personen wird in situations- und kontextgebundenen Okkasionalismen konkretisiert: Brüderwirtschaft (1978, 2010a), Neffenwirtschaft (1995), Väterwirtschaft (1996a, 2006) und Schwesternwirtschaft (2011b). Zudem finden sich seit den 1970er Jahren im DWDS-Korpus auch Bildungen mit übergeordneten Begriffen wie ClanWGd, FamilieWGd, SippeWGd und Verwandte, die alle pejorativ, teilweise auch scherzhaft für das Tun und Treiben
dieser familiär bzw. verwandtschaftlich verbundenen Gruppen verwendet werden (1999, 2000a, 2013a, 2014b).2)
Während die hochdeutsche Form Freundeswirtschaft (1996b) nur vereinzelt verwendet wird, sind die regionalen Varianten Freunderlwirtschaft (2017), VetterleswirtschaftWGd und SpezlwirtschaftWGd im bairischen und schwäbischen Sprachraum durchaus gebräuchlich.
Kollokationen
Als Wörter, die häufig in der näheren Textumgebung von Cliquenwirtschaft zu finden sind, wären zu nennen: Bestechung (1986), FilzokratieWGd (1987), FilzWGd (2000b) sowie das Adjektiv verfilztWGd (1966b), Inkompetenz (1974), Korruption (2013b) und das Adjektiv korrupt (2000c), Machtmissbrauch (1997), NepotismusWGd (1987) und SeilschaftWGd (2005). Kritiker erheben Vorwürfe von Cliquenwirtschaft (1960) und der Kampf gegen die Cliquenwirtschaft (1973) drückt sich in Verbindungen mit Verben aus: Cliquenwirtschaft wird angeprangert, bekämpft und soll ausgerottet werden (1967, 2000d), wird beklagt und kritisiert, außerdem soll der Cliquenwirtschaft ein Riegel vorgeschoben werden (1971). Zudem steht der Ausdruck häufig in Wortpaaren mit den anderen bedeutungsähnlichen -wirtschafts-Wortbildungen KlüngelwirtschaftWGd (1918), GünstlingswirtschaftWGd, VetternwirtschaftWGd (1971) und Clanwirtschaft (2002), .
Anmerkungen
1) Hier wird auf den seit langem kontrovers diskutierten Affixoid-Begriff verzichtet, vgl. Fleischer/Barz 2012, 58–63 und 5Metzler Lexikon Sprache, 17.
2) In Familienwirtschaft ist der Bestandteil -wirtschaft in der Bedeutung Familienklüngel
als Wortbildungselement anzusehen. Gebräuchlicher ist jedoch die Verwendung des Wortes für landwirtschaftlicher Betrieb o. Ä., der sich im Besitz einer Familie befindet, von Familienmitgliedern betrieben wird
, dabei handelt es sich um eine Zusammensetzung, in der Wirtschaft das Grundwort ist (vgl. Duden online unter Familienwirtschaft).
Literatur
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
20Kluge Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Aufl. bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 1967.
5Metzler Lexikon Sprache Glück, Helmut/Rödel, Michael (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. 5., aktualisierte und überarbeitete Aufl. Stuttgart 2016.
NDB Neue Deutsche Biographie. Bd. 1ff. Berlin 1953ff. (deutsche-biographie.de)
Schmalz 2014 Schmalz, Gisela: Cliquenwirtschaft. Die Macht der Netzwerke: Goldman Sachs, Kirche, Google, Mafia & Co. München 2014.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Cliquenwirtschaft.