Wortgeschichte
Der hintere Raum
Das substantivische Kompositum Hinterzimmer ist zusammengesetzt aus dem Grundwort Zimmer Raum, der dem Menschen zum Wohnen dient
und dem adjektivischen Erstglied hinter hinten befindlich
. So wie hinter und vorder in gegensätzlicher Bedeutung stehen, sind auch die Wörter Hinterzimmer und Vorderzimmer Antonyme. Das Wort Hinterzimmer ist seit dem 17. Jahrhundert bezeugt (1664; zuerst im Wörterbuch 1702) und bezeichnet einen separaten Raum, der im hinteren Teil der Wohnstätte, hinter einem anderen Zimmer (1749, 1893) oder nach hinten hinaus/zur Rückseite (oftmals zum Garten) liegt (1885, 1890, 1969a). Ein als Hinterzimmer bezeichneter Raum kann verschiedenen Zwecken dienen, er kann z. B. als Lagerraum genutzt werden (1875, 2001a) oder eine Schlafstätte hinter den vorderen Räumen sein (1913). Das Hinterzimmer wird auch als Rückzugsort genutzt (1840). Es ist dabei im Unterschied zu einem als Herrenzimmer bezeichneten Raum, der dem Hausherrn und seinen Gästen als Rückzugsort dient (1917) nicht repräsentativ (1901). Häufig steht der Ausdruck Hinterzimmer mit Adjektiven wie abgelegen, dunkel, eng, klein oder verschwiegen (1855, 1864, 1875, 2006). Ferner wird das Wort häufig auf die Räumlichkeiten von Gaststätten oder Geschäften bezogen: Hier meint Hinterzimmer einen Raum, der sich hinter dem eigentlichen öffentlichen Gast- oder Ladenraum befindet, zum Beispiel für geschlossene Gesellschaften oder zur privaten Nutzung (1750, 1864, 1998a).
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Hinterstübchen
In der deutschen Sprache finden sich verschiedene Ausdrücke für die Bezeichnung von Wohnräumen wie Stube und Zimmer, Lehnwörter wie Kabinett (2015a), Salon und Séparée oder mittlerweile veraltete Ausdrücke wie Gemach und Kemenate. Vorwiegend umgangssprachlich und abwertend werden Bude und Kabuff verwendet. Zudem stehen noch zahlreiche, durch verschiedene Bestimmungswörter spezifizierte Komposita zur Verfügung (Abstellraum, Besenkammer, Arbeitszimmer, Wohnzimmer etc.).
Synonym zu Hinterzimmer werden die Komposita Hinterstube (1700, 1883) und Hinterraum (1843, 1978) sowie die Verkleinerungsformen Hinterstübchen (1800, 1847) und Hinterstüblein (1845, 2009) gebraucht. Diese sind häufig mit der Konnotation des Beschaulichen und Idyllischen verbunden (vgl. GWB 4, 1246). Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird Hinterstübchen – wenn auch deutlich seltener – wie Hinterzimmer metaphorisch gebraucht (2004). Der Ausdruck Hinterstübchen wird heute umgangssprachlich in den Verbindungen nicht ganz richtig im Hinterstübchen sein leicht verrückt sein
und etwas im Hinterstübchen behalten sich einer Sache bewusst sein, sie nicht vergessen
übertragen verwendet. Die Diminutivform Hinterzimmerchen kommt im Vergleich zu Hinterstübchen selten vor.
Zurückgesetzt und benachteiligt
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird Hinterzimmer metaphorisch gebraucht. Für die frühesten übertragenen Gebräuche in Textbelegen wie Hinterzimmer der westdeutschen Wirtschaft oder ein Hinterzimmer Bayerns (1953, 1956a) ist das semantische Merkmal abgelegen
bzw. zurückgesetzt
ausschlaggebend. Gemeint ist hier etwas, das nach hinten versetzt und dadurch benachteiligt ist. Dieser Gebrauch ist selten bezeugt.
Geheime Absprachen im Hinterzimmer
Bedingt durch die abgelegene, nicht einsehbare Lage von Hinterzimmern sind diese Räume prädestiniert für Zusammenkünfte unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Viele Belege zeigen das Wort Hinterzimmer in Zusammenhängen, in denen es um vertrauliche oder konspirative Treffen geht. Das können geheime politische Gespräche und Versammlungen oder inoffizielle Geschäftstreffen sein (1848, 1956b, 2010), aber auch illegale/kriminelle Zusammenkünfte, wie zum Beispiel Glücksspielrunden (1863, 1880, 1951, 1971).
Davon ausgehend wird das Wort in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders im politischen Kontext verwendet, um einen nicht offiziellen Ort, an dem geheime/vertrauliche Handlungen, Absprachen und dergleichen stattfinden, zu bezeichnen. Es ist nicht immer eindeutig zu erkennen, ob ein Treffen tatsächlich in einem hinteren Raum
stattgefunden hat oder ob Hinterzimmer in der erweiterten Bedeutung Ort, an dem Handlungen und Absprachen außerhalb der Öffentlichkeit stattfinden
verwendet wird (1968, 1969b, 1969c, 1970). Auch im künstlerischen Kontext verwendete Gebräuche zeigen fließende Übergänge: In Textbelegen wie in den Hinterzimmern der Berliner Galerien (1956c) oder Jazz – in dunklen, engen Hinterzimmern (1998b, 2005) wird das Wort in konkreter Bedeutung verwendet, während es zum Beispiel in der Zeitungsüberschrift Das Hinterzimmer der Jazzszene (1976) oder in dem Buchtitel Die Wiener Free-Jazz-Avantgarde: Revolution im Hinterzimmer (Felber 2005) als Sinnbild für subkulturelleWGd Aktivitäten zu verstehen ist.
In seit den 1970er Jahren bezeugten Komposita wie zum Beispiel Hinterzimmerpolitik (1974), Hinterzimmerkungelei (1994) und Hinterzimmerdeals (2011), in Verbindungen wie Hinterzimmer der Macht (1984, 2015b) und Aussagen wie Heraus aus den Hinterzimmern und Die Zeit der Hinterzimmer ist vorbei (1986, 1997a) hat sich der Gebrauch unverkennbar von der ursprünglichen räumlichen Bedeutung gelöst (vgl. auch 2013, 2019a, 2021). Hier wird Hinterzimmer metonymisch in der Lesart intransparente Handlungen und Absprachen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorbereitet und getroffen werden
verwendet.
Vergleichbar ist dieser Gebrauch mit den idiomatischen Verbindungen hinter den KulissenDWDS und hinter verschlossenen TürenDWDS.
Auch wenn verschiedentlich Argumente für die Berechtigung des Hinterzimmers als informelle und geschützte politische Kommunikationsmöglichkeit geäußert werden (z. B. Es lebe das Hinterzimmer! Schuster 2019, Ehrenrettung des Hinterzimmers Fahrenholz 2021), wird das Wort doch fast ausschließlich in abwertender Weise verwendet1). Auffallend häufig bedienen sich Politiker selbst des Worts, wenn sie intransparente Entscheidungsprozesse kritisieren (1999, 2001b, 2018). Entsprechend der abwertenden Verwendung steht Hinterzimmer häufig im Zusammenhang mit ebenfalls pejorativen Wörtern wie KungeleiWGd und (aus)kungelnWGd (1999, 2019c), KlüngeleiWGd (1998c), dem heute als diskriminierend empfundenen Mauschelei/Gemauschel (1998d, 2020) sowie FilzWGd und VetternwirtschaftWGd (2019b).
Back room: ein englisches Vorbild?
Die englische Verbindung back room/backroom ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in der Bedeutung hinteres Zimmer eines Gebäudes
bezeugt (zu den Bedeutungen im Englischen s. 3OED unter back room). In den 1940er Jahren, also zu Kriegszeiten, entwickelt sich ein spezieller Gebrauch im Englischen: Das Wort wird auf Räume bezogen, in denen geheime Forschung betrieben wird. Attributiv wird das Wort in der Verbindung backroom boys zunächst auf die Forscher/Entwickler in diesen geheimen Räumen/Laboren bezogen. Im Deutschen ist dieser Verwendungszusammenhang zu dieser Zeit nicht gebräuchlich2). Ein ähnlicher Gebrauch findet sich jedoch in jüngerer Zeit, da Hinterzimmer gelegentlich auch auf Entwicklungsabteilungen von Computerfirmen u. ä. bezogen wird (1997b).
Entsprechend der übertragenen Verwendung von Hinterzimmer bezeichnet backroom im englischen Sprachgebrauch Orte, an denen geheime Handlungen/Absprachen außerhalb der Öffentlichkeit stattfinden. Mit den Wortverbindungen backroom boys und backroom staff werden Personen bezeichnet, die hinter den Kulissen arbeiten. Eine Beeinflussung des metaphorischen Gebrauchs von deutsch Hinterzimmer durch das Englische ist nicht auszuschließen, es kann sich aber durchaus auch um einen voneinander unabhängigen Bedeutungswandel in beiden Sprachen handeln.
Anmerkungen
1) Auch andere Komposita mit dem Bestimmungswort hinter drücken etwas Heimliches, Verstecktes oder Unehrliches aus und werden abwertend verwendet: Hintertür heimlicher Weg, um sich einer Sache zu entziehen, um etwas zu erreichen
, Hinterabsicht versteckte Absicht
, Hinterhalt Versteck, von dem aus man jemandem auflauert
, Hintergedanke heimliche Absicht
, Hinterlist heimtückisches, hinterhältiges Verhalten
, Hintermann Person, die eine politische, wirtschaftliche Aktion aus dem Hintergrund lenkt, plant
.
2) Eine Ausnahme bildet die Verwendung in dem Filmtitel Experten aus dem Hinterzimmer, allerdings ist dies eine Übersetzung des englischen Titels The small backroom aus dem Jahr 1949.
Literatur
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Fahrenholz 2021 Fahrenholz, Peter: Verhandlungen. Ehrenrettung des Hinterzimmers. In: Süddeutsche Zeitung (online), 30. 4. 2021. (sueddeutsche.de)
Felber 2005 Felber, Andreas: Die Wiener Free-Jazz-Avantgarde. Revolution im Hinterzimmer. Wien u. a. 2005.
GWB Goethe-Wörterbuch. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [bis Bd. 3, Lfg. 4. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin/Akademie der Wissenschaften der DDR], der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 1 ff. Stuttgart 1978 ff. (woerterbuchnetz.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Schlüsselwörter 1997 Herberg, Dieter/Doris Steffens/Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90. Berlin/New York 1997. (owid.de)
Schuster 2019 Schuster, Jacques: Es lebe das Hinterzimmer! In: Welt (online), 20. 7. 2019. (welt.de)
Stötzel 2002 Stötzel, Georg/Thorsten Eitz (Hrsg.): Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hildesheim 2002.