Wortgeschichte
Vitamin – ein Kunstwort
Die Entdeckung der als Vitamine bezeichneten Wirkstoffe, die eine zentrale Rolle bei der Regulierung des Stoffwechsels einnehmen, ist auf das frühe 20. Jahrhundert zurückzuführen. Die englische Bezeichnung vitamine prägte der Biochemiker Casimir Funk im Jahr 1912. Das Kunstwort fügte er aus lateinisch vita Leben
und der englischen Bezeichnung für organische Stickstoffverbindungen amine zusammen (vgl. 1912, 1924a; vgl. 3OED unter vitamin). Die Neubildung erreichte die deutschsprachige Fachwelt zwei Jahre später mit der von Casimir Funk auf Deutsch verfassten Monographie Die Vitamine (vgl. Funk 1914).
Auch wenn sich später zeigte, dass nicht alle mit der Bildung vitamine bezeichneten Substanzen tatsächlich Amine sind, blieb man trotz Gegenvorschlägen (vgl. 1924a) bei der eingängigen und in den 1920er Jahren offenbar bereits populären wohlklingend[en] Bezeichnung (1924b). Die Ausdrucksseite ist im Zuge der neuen Erkenntnisse leicht verändert worden: Im Englischen schreibt man seitdem vitamin – das -e am Ende des zweiten Wortbestandteils, der eigentlich die Zusammengehörigkeit zu den Aminen verdeutlichen sollte, wurde getilgt (1920). Im Deutschen wird das Wort Vitamin auch außerhalb der Fachsprache schnell geläufig; im Jahr 1929 wird die junge Bildung erstmals in den Rechtschreibduden aufgenommen (vgl. Duden online unter Vitamin).
Vitamin A, B, C – Klassifizierung mit Großbuchstaben
Anfang der 1920er Jahre wird in Bezug auf die Vitaminklassifizierung ein seither bekanntes Buchstabensystem entwickelt: Das Wort Vitamin in Kombination mit einem Großbuchstaben wird als Kennzeichnung der verschiedenen Substanzen eingeführt (vgl. 1920, 1924c). Die bis dahin entdeckten Vitamine werden alphabetisch Vitamin A, Vitamin B, Vitamin C usw. geordnet. Auch Casimir Funk nennt den früh von ihm als Antiberiberi-Vitamin identifizierten Wirkstoff Thiamin dann ab der 3. Auflage seiner Studie Vitamin B (1924c). Heute kennt man die Wortverbindung Vitamin B als Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Vitaminen (Vitamin-B-Komplex), die in ihren Eigenschaften und Funktionen unterschiedlich sind. Durch eine an den Buchstaben B angehängte Ziffer werden sie klassifiziert; so ist zum Beispiel für den Wirkstoff Thiamin nun die Bezeichnung Vitamin B1 gebräuchlich.
B steht für Beziehungen
In den 1940er Jahren lässt sich erstmals ein bis heute geläufiger übertragener Gebrauch der Wortverbindung Vitamin B nachweisen (1943a). Während der Buchstabe B im biochemischen Verwendungszusammenhang ohne spezifische Bedeutung ist1) und lediglich der Vitaminklassifizierung dient, steht das B in der übertragenen Verwendung für den Anfangsbuchstaben des Worts Beziehung. Mit der neuen Lesart gute und nützliche Beziehungen zu (einflussreichen) Personen
, ist Vitamin B als Idiom beschreibbar: Die Gesamtbedeutung der nicht flektiertbaren Substantivgruppe (vergleichbar mit Schema F und Plan B) ist nicht aus den Einzelbestandteilen verständlich, sondern hat eine Übertragung erfahren.
Während der Kriegs- und Nachkriegszeit, in der sich der übertragene Gebrauch etabliert hat, bezeichnet Vitamin B nun nicht mehr allein lebensnotwendige biologische Substanzen, sondern steht für den zu dieser Zeit ebenfalls lebenswichtigen Zugang zu knappen Gütern wie Lebensmitteln oder Wohnraum, der einem nur über die guten Beziehungen zu bestimmten Personen inoffiziell ermöglicht wird. Die scherzhaft-spöttische Rede von Vitamin B war wahrscheinlich in der Umgangssprache weitaus verbreiteter, als es die vereinzelten Textbelege der 1940er Jahre zeigen. Dafür spricht, dass bereits in den ersten Nachweisen von dem berühmten Schlagworte Vitamin B, dem berüchtigten oder geheimnisvolle[n] Vitamin B berichtet wird (1943a, 1943b, 1945). In der Kriegszeit ist der Gebrauch der Wortverbindung offenbar im inoffiziellen und vertraulichen Sprachgebrauch anzusiedeln: Frühe Nachweise finden sich in Feldpostbriefen, die eine persönliche Sichtweise auf den Kriegsalltag in Deutschland zeigen (1943c, 1943d). In der Nachkriegszeit nimmt die Belegfrequenz zu: Vitamin B wird übertragen nicht mehr als geheimer Code, sondern öffentlich und vermehrt schriftsprachlich gebraucht. Die metaphorische Verwendung von Vitamin B findet sich unter anderem in Rückblicken auf die Lebensumstände in der Kriegszeit und Schilderungen der überlebenswichtigen Relevanz persönlicher Beziehungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern (1960, 1971, vor 1984a).
Der Gebrauch der übertragenen Wortverbindung hat sich seit ihrem Aufkommen in den Kriegsjahren den sich verändernden Bedürfnissen und Lebensgefühlen der Generationen angepasst. Während sich das Idiom Vitamin B zunächst auf den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern bezieht (1948), sind die meisten Gebräuche bald und bis heute vorwiegend auf die Vorteile guter Beziehungen zu einflussreichen Personen im Geschäfts- und Berufsleben bezogen (1947, 1961, 1965, 1984b). Hier finden sich Verbindungen wie etwas (einen Job, einen Auftrag) über Vitamin B bekommen o. ä. (1997a), an etwas über Vitamin B kommen (2008, 2016), jemand hat/verfügt über Vitamin B (2014, 2020) und Aussagen wie ohne Vitamin B läuft nichts (1997b, 2007).
Im Vergleich zu anderen Wörtern des Wortfelds wie KlüngelWGd, SeilschaftWGd, VetternwirtschaftWGd ist der Gebrauch der Verbindung Vitamin B als scherzhaft-spöttisch und nicht als abwertend aufzufassen.
Analogiebildungen
Zu dem übertragenen Gebrauch von Vitamin B gibt es vereinzelte, ähnlich funktionierende Analogiebildungen: Die Verbindung Vitamin N steht in frühen Belegen für Naturalien (1943b; rückblickend bei Uwe Johnson vor 1984a) und gegenwärtig für Natur (2013). Die ebenfalls früh bezeugte Verbindung Vitamin P, in der das P (vergleichbar mit der Bedeutung von Vitamin B) für Protektion steht, ist häufiger zu finden (1953, 1960, 1969) und auch gegenwärtig im Österreichischen offenbar verständlich (2017).2)
Für die Kriegs- und Nachkriegszeit ist im Niederländischen die dem Deutschen Vitamin B entsprechende Wortverbindung vitamine R nachzuweisen (1952, 1968; vgl .WNT unter vitamine). Das R steht für niederländisch relaties (vgl. WNT unter relatie) Beziehungen
. Anscheinend wurde die Wortverbindung von niederländischen Konzentrationslager-Insassen verwendet (vgl. 2006, Coster 2021).
Anmerkungen
2) Vgl. weitere mögliche Beispiele im Wörterbuch der Umgangssprache, Küpper 1987, 891–892.
Literatur
Coster 2021 Coster, Marc de: vitamine R. In: Woerdenboek van Populair Taalgebruik. 23. 8. 2021. (ensie.nl)
DNB Katalog der Deutschen Nationalbibliothek. Leipzig/Frankfurt a. M. (dnb.de)
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Funk 1914 Funk, Casimir: Die Vitamine, ihre Bedeutung f. d. Physiologie und Patholoogie mit besonderer Berücksichtigung der Avitaminosen: Beriberi, Skorbut, Pellegra, Rachitis. Wiesbaden 1914.
Küpper 1987 Küpper, Heinz: Pons-Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Stuttgart 1987.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
WNT Woordenboek der Nederlandsche Taal. Bd. 1–29. ’s-Gravenhage u. a. 1882–1998. (ivdnt.org)