Wortgeschichte
Sippe in den älteren Sprachstufen
Das Wort Sippe, althochdeutsch sibb(i)a, mittelhochdeutsch, sippe ist seit dem 8. Jahrhundert belegt und bedeutet (Bluts)verwandtschaft
(1DWB 16, 1225, Lexer 2, 938). Daneben gibt es ein gleichlautendes Maskulinum Sippe, althochdeutsch sibbo, mit der Bedeutung der Verwandte
sowie das Femininum sibba, die Verwandte
, die vereinzelt noch im 19. Jahrhundert vorkommen (vgl. dazu Lexer 2, 939 und 1DWB 16, 1225).
Die Bedeutung des althochdeutschen sibb(i)a (Bluts)verwandtschaft
fußt auf einer für das Germanische zu rekonstruierenden Verwendung durch ein Bündnis begründete Verwandtschaft
1), die durch den verwandtschaftlichen Bezug Zugehörigkeit durch Abstammung
erweitert wurde (SippeDWDS, 6Duden Herkunft, 784, s. auch 1DWB 16, 1223). Im Mittel- und Neuhochdeutschen setzt sich die Bedeutung Blutsverwandtschaft
fort, im 16. Jahrhundert wird das Wort zunächst ungebräuchlich (1DWB 16, 1223). So findet man im 17. Jahrhundert neben vereinzelten Textbelegen (1614, 1693) schließlich nur noch Wörterbucheinträge (1663, 1691, hier Verwandtschaftsgrad
; vgl. dazu die Beleglücke im 17. Jahrhundert im DRW 8, 624). Später wird Sippe in Wörterbüchern als veraltet
markiert (Steinbach, 593) oder unter dem Stichwort Sippschaft mitbehandelt (1801), das bereits im 16. Jahrhundert häufiger anstelle des Wortes Sippe genutzt wird. Auch das neu aufgekommene Wort FamilieWGd dient offenbar als Ersatz.
Sippe kommt wieder in Mode
Wenn auch von einer Wiederbelebung
des Wortes Sippe bereits im 18. Jahrhundert zu lesen ist (25Kluge, 851), sind Belege in dieser Zeit zunächst noch selten und vorerst nur in rechtssprachlichen Texten zu finden: Sippe und Sippſchafft ſind Juriſten-Termini und heiſſen so viel, als die Seiten-Verwandtſchafft
(1747; vgl. daneben 1759, 1783). Im 19. Jahrhundert aber wird das Wort Sippe wieder gebräuchlicher. In den Naturwissenschaften wird es verwendet, um unterarten von thier- oder pflanzenfamilien zu benennen
(s. 1DWB 16, 1223), so beispielsweise bei Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1819. Später knüpft der Sprachwissenschaftler August Schleicher an die Naturwissenschaften an und führt Sippe so auch seiner eigenen Disziplin zu:
Nehmen wir nun das Darwinsche Buch zur Hand und sehen wir zu, was sich von Seiten der Sprachwissenschaft den von Darwin vertretenen Anschauungen analoges zur Seite stellen lässt.
Vor Allem sei jedoch daran erinnert, dass die Verhältnisse der Specificierung im Gebiete der Sprachen zwar im Wesentlichen dieselben sind als im Reiche der Naturwesen überhaupt, dass aber die Ausdrücke zur Bezeichnung dieser Verhältnisse, deren sich die Sprachforscher bedienen, von denen der Naturforscher abweichen. Diess bitte ich stäts vor Augen zu behalten, da auf dieser Erkenntniss alles Folgende beruht. Was die Naturforscher als Gattung bezeichnen würden, heisst bei den Glottikern Sprachstamm, auch Sprachsippe; näher verwandte Gattungen bezeichnen sie wohl auch als Sprachfamilien einer Sippe oder eines Sprachstammes. [Schleicher 1863, 12]
Während Schleicher Sippe als Synonym zu (Sprach-)Stamm verwendet, also eine Familie verwandter Sprachen
darunter fasst, bezeichnet das Wort in den Sprachwissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine Familie bedeutungsverwandter Wörter
(1910, 1927).
Zeitgleich tragen Schriftsteller und Journalisten zur weiteren Verbreitung des Wortes Sippe bei. Analog zu dem modernen Wort Familie (s. o.) gebrauchen sie es in der Bedeutung Großfamilie, Familie
oder auch familienartige (größere) Gruppe von Personen
, häufig mit abwertendem, gelegentlich auch spöttischem Unterton (1832, 1848, 1882, 1885a, 1885b, 1895, 1897).
Es bleibt ein negativer Beigeschmack
Die negativ konnotierte Verwendung von Sippe findet im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung und entwickelt sich zum Hauptgebrauch. Das Wort wird dabei nicht immer auf die Familie und die Verwandtschaft bezogen (1934b, 1956, 1993, 2004), vielmehr können – wie schon zuvor – auch nicht verwandte Personen dazugehören (1987, 1999, 2013). In der Bedeutung familienartige (größere) Gruppe von Personen
stellt sich Sippe in der jüngeren Zeit damit neben GroßfamilieWGd und ClanWGd. Deutlich seltener findet man Sippe in der neutralen Variante als Entsprechung zu Familie, Großfamilie oder Verwandtschaft (1959, 1984, 1998).
Sprachgebrauch im Nationalsozialismus
Das seit dem 19. Jahrhundert vielfach abwertend und gelegentlich auch spöttisch verwendete Wort Sippe wird in der Zeit des Nationalsozialismus politisch aufgewertet. Die Nat[ional]soz[ialisten] suchten S[ippe] in den tägl[ichen] und offiz[iellen] Sprachgebrauch anstelle von Familie einzuführen
(Zentner/Bedürftig 1985, 540). Der Literaturwissenschaftler Viktor Klemperer vermerkt zur Bedeutungsentwicklung in seinem Tagebuch im Jahr 1940: Kurve eines Wortes. Sippe im Mittelalter normal gebräuchlich für Familie. In der Neuzeit pejorativ. Jetzt mit affektischer Gloriole.
(1940, zit. n. Schmitz-Berning 2000, 576). Bezugnehmend auf die germanische Frühgeschichte des Wortes (z. B. 1939, vgl. dazu Salzig 2015, 59–76) bezeichnet Sippe im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten meist einen weitreichenden Verwandtschaftsverband, die Weihnachten das Fest der Sippe
Blutsverwandtschaft
(1930, 1934a, 1936, 1941, 1942a).
Zahlreiche neue und auch wiederbelebte alte Wortbildungen mit Sippe tragen zur Verbreitung des Wortes bei. Zu Sippe entstanden im NS-Sprachgebrauch zahlreiche Weiterbildungen, die zum Teil dem Muster der Weiterbildungen von Rasse entsprechen
(Schmitz-Berning 2000, 576). Bezeichnungen wie Sippenamt (1938), Sippenstelle (1942b), Reichssippenamt (1997a) oder Amt für Sippenforschung (1997b) belegen, dass Sippe zu einem zentralen Begriff des NS-Jargons geworden ist.
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Aus Rasseforschung wird Sippenforschung
Die Reichsstelle für Sippenforschung, die anfangs für die Prüfung und Begutachtung von Abstammungsnachweisen eingerichtet wurde, geht aus der Dienststelle für Rasseforschung hervor. Die Umbenennung von Dienststelle in Reichsstelle erfolgt im Jahr 1935, gleichzeitig wird das Bestimmungswort Rasse durch Sippe ersetzt. Ursprung dieser Dienststelle ist die Deutsche Auskunftei
, die Achim Gercke, ein für die NSDAP tätiger Naturwissenschaftler, seit ca. 1925 aufgebaut hatte (vgl. dazu ausführlicher Salzig 2015, 66–70). Sie wird zunächst als Archiv für berufsständische Rassenstatistik
weitergeführt, im Jahr 1934 dann aber in das neu gegründete Amt für Sippenforschung überführt. Wird dem Wort Sippe in dieser Bezeichnung gegenüber Rasse bereits der Vorzug gegeben, gleicht sich die zugehörige Dienststelle bzw. Reichsstelle im darauffolgenden Jahr an.2)
Anmerkungen
1) Zur Bedeutung des Wortes Sippe (als Rechtsbegriff) im Germanischen s. zusammenfassend Schulze 2000, 34–39.
2) Vgl. weiterführend dazu EHRI, Reichssippenamt.
Literatur
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
6Duden Herkunft Duden – das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 2020.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
EHRI European Holocaust Research Infrastructure (EHRI). 2011 ff. (ehri-project.eu)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
Lexer Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabethischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. Bd. 1–3. Leipzig 1872–1878. (woerterbuchnetz.de)
Salzig 2015 Salzig, Johannes: Die Sippenhaft als Repressionsmaßnahme des nationalsozialistischen Regimes. Ideologische Grundlagen – Umsetzung – Wirkung. Dissertation Philipps-Universität Marburg 2014/2015. Augsburg 2015.
Schleicher 1863 Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Häckel, a. o. Professor der Zoologie und Director des Zoologischen Museums an der Universität Jena. Weimar 1863.
Schmitz-Berning 2000 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000 [Nachdruck der Ausg. Berlin/New York 1998].
Schulze 2000 Schulze, Hans K.: Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Hof, Dorf und Mark, Burg, Pfalz und Königshof, Stadt. 3., verb. Aufl. Stuttgart u. a. 2000.
Steinbach Steinbach, Christoph Ernst: Christoph Ernst Steinbachs Vollständiges deutsches Wörterbuch Vel Lexicon Germanico-Latinum / Cvm Praefationibus Et Autoris Et Iohannis Ulrici König S. R. M. Polon. Et Elect. Sax. Consiliarii Aulici. Breßlau 1734. (nbn-resolving.de)
Zentner/Bedürftig 1985 Zentner, Christian/Bedürftig, Friedemann (Hrsg.): Das große Lexikon des Dritten Reiches. München 1985.