Wortgeschichte
Ein Wort ersetzt das andere
Die Hausgenossenschaft des späten Mittelalters umfasste alle in einem Haus oder einem Haushalt Zusammenlebenden, so dass die Bezeichnung das ganze HausDWDS für diese Form der WohngemeinschaftWGd eine naheliegende und treffende war. Dazu gehörten nicht nur Eltern und ihre Kinder, sondern neben Großeltern auch weitere Verwandte sowie das Gesinde (vgl. 1DWB 3, 1305, online). Seit dem 16. Jahrhundert1) ist in deutschsprachigen Texten daneben das Wort Familie zu lesen, zunächst in der Kanzleisprache (1566). Familie – aus familialat. entlehnt – wird anfangs vielfach noch in der lateinischen Form familia geschrieben (1644). Unter Einfluss des französischen famille setzt sich schließlich im 18. Jahrhundert die gegenwartssprachlich geläufige Form Familie im deutschen Sprachgebrauch durch (1726).
In den frühen Belegen bedeutet Familie meist Stamm, Geschlecht, Sippe
, erst mit zunehmender Verwendung des neuen Wortes im 17. und 18. Jahrhundert kommt die Bedeutung Haus(halts)gemeinschaft
im Sinne des ganzen Hauses hinzu (1809, vgl. auch 2DFWB 5, 685–689 und 25Kluge, 275).2) Die Wörter Familie und Haus werden zunächst noch parallel verwendet (s. EdN unter Familie). Bezugnehmend auf die Bedeutung des ganzen Hauses schreibt Johann Karl August Musäus noch im Jahr 1779 mit ironischem Unterton: Der Herr, hieß es, ſey uͤber Land, und die Familie, beſtehend aus Weib, Kind, Schoßhund und Geſinde, ſey eben in die Kirch gegangen
(1779).
Vom ganzen Haus zum Zweigenerationenhaushalt
Seit dem 18. Jahrhundert entwickelt sich eine andere Lebens- bzw. Wohnform: Neben der Hausgenossenschaft des ganzen Hauses (1809) gibt es zunehmend Zweigenerationenhaushalte (1845). Das Wort Familie meint nun auch eine (zumeist) aus Eltern und Kindern bestehende Lebensgemeinschaft
. Infolge der Industrialisierung und eines veränderten Arbeitslebens strukturiert sich das Familienleben neu (1870, 1907, 1913), kleinere Haushaltseinheiten separieren sich, wirtschaften eigenständig und leben ihren Alltag unabhängig von weiteren Familienmitgliedern (1962). Die Belege dieser Zeit bleiben oft insofern unklar (1845), als Familie nach wie vor eine Hausgenossenschaft, aber auch einen Haushalt bestehend aus Eltern und Kindern bezeichnet. Zur Unterscheidung werden in der Soziologie die Begriffe KleinfamilieWGd und GroßfamilieWGd geprägt, die sich als Gegensatzpaar im allgemeinen Sprachgebrauch jedoch nicht einbürgern. Stattdessen unterscheidet man Familie in der Bedeutung Kleinfamilie
und Großfamilie mit verschiedenen Formen der Hausgemeinschaft, die meistens mehr als zwei
GenerationenWGd umfasst und an das ganze Haus erinnert.
Vielfalt der Familie
Die Zahl der Wortbildungen mit Familie nimmt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts insgesamt zu (s. EdN unter Familie, vgl. auch 1DWB 3, 1306, online). Zudem häufen sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Wortneuschöpfungen zur Kennzeichnung der jeweiligen Lebensform. Neben KleinfamilieWGd und Großfamilie sind beispielsweise Normalfamilie und Pflegefamilie seit den 50er Jahren, KernfamilieWGd (1971b), Adoptivfamilie und Einkindfamilie (1971a) seit den 70er Jahren, Stieffamilie, Patchworkfamilie (1998, 2006) und Einelternfamilie (2006) seit den 90er Jahren belegt. Die strukturelle Vielfalt, die sich in diesen Bildungen spiegelt, ist dabei im Kern nicht neu:
Zahlreiche familienhistorische Untersuchungen belegen, dass es vor und zu Beginn der Industrialisierung eine außerordentlich große Vielfalt familialer Lebensformen gegeben hat […]. Faktisch alle heute auftretenden Lebensformen haben schon in dieser historischen Phase existiert; die einzelnen StrukturelementeneuerLebensformen sind also nicht neu. […] Allerdings sind die damaligen Lebensformen im Hinblick auf die Lebenslage der Menschen und der kulturellen Bedeutung mit den heutigen Lebensformen nur bedingt vergleichbar. [Peuckert 2008, 17]
So gibt es Wortneuschöpfungen, die bereits vorhandene Komposita ersetzen bzw. aktualisieren, wie z. B. Einelternfamilie anstelle von Mutter- oder Vaterfamilie (Peuckert 2008, 17). Die jüngst kreierte Wortverbindung Co-Eltern-Familie (2015a) mag das gesellschaftliche Bedürfnis unterstreichen, Unterschiede in den Lebensformen differenziert zu benennen. Die Bedeutung des Wortes Familie aus Eltern und Kindern bestehende Lebensgemeinschaft
ändert sich dadurch nicht, vielmehr werden lediglich die charakteristischen Definitionsmerkmale wie z. B. Eltern, Kind, Ehe u. Ä. gesellschaftlich umgedeutet oder juristisch neu ausgelegt (vgl. Krüger 2006, 204 f.). Inwieweit Kinder oder auch Partnerschaft ein Kriterium für den Status einer Familie sind oder bleiben, wird die künftige Entwicklung zeigen. Vereinzelte Textbelege könnten auf eine Bedeutungserweiterung des Wortes Familie hinweisen (1987, 2015b).
Familie ohne Verwandtschaft
Die verwandtschaftliche und wirtschaftliche Zusammengehörigkeit derjenigen, die einer Familie zugeordnet werden, impliziert ein mehr oder weniger starkes Verbundenheitsgefühl. Letzteres mag der Grund sein, dass auch Zusammenschlüsse von Menschen, die in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen, gelegentlich als Familie bezeichnet werden. Bereits vor Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Gemeinschaft von Menschen, die durch Interessen, durch ihre Arbeit oder anderes miteinander verbunden sind, mit der Formulierung wie eine Familie in einen familiären Rahmen gesetzt (1798, 1846, 1915, 1917, 1925). Im 20. Jahrhundert geht es über den Vergleich hinaus, das Wort Familie wird häufiger direkt auf eine soziale Gruppe übertragen, offenbar um die besondere Vertrautheit der Gruppenangehörigen zu unterstreichen, vielleicht aber auch, um eine Ersatzfamilie anzuzeigen (1970, 2005).
Anmerkungen
1) Vgl. Pfeifer unter FamilieDWDS: Die Bezeichnung wird zu Anfang des 15. Jhs. ins Dt. entlehnt und setzt sich im 16. Jh. allmählich durch (noch nicht bei Luther).
2) Vgl. außerdem 1DFWB 1, 203, 15Kluge, 189, 2DWB 9, 119–122, online, Pfeifer unter FamilieDWDS.
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
15Kluge Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 15. Aufl., völlig neubearbeitete von Alfred Götze. Berlin 1951.
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
Krüger 2006 Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): Wörterbuch Erziehungswissenschaft. 2., durchgesehene Aufl. Opladen u. a. 2006.
Peuckert 2008 Peuckert, Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel [Lehrbuch]. 7., vollst. überarb. Aufl. Wiesbaden 2008.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Familie.