Wortgeschichte
Eine Lehnübersetzung aus dem Englischen
Bei der Verbindung die oberen Zehntausend handelt es sich um eine Lehnübersetzung der englischen Fügung the upper ten (thousand), die laut 3OED seit 1844 bezeugt ist, und zwar zunächst im amerikanischen, einige Jahre später und überwiegend in der Verkürzung the upper ten auch im britischen Englisch (s. 3OED unter upper).
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Der englische Ausdruck findet sich zuerst 1844 in dem Leitartikel einer New-Yorker Zeitung bezüglich der allerreichsten Einwohner New-Yorks
(Stiven 1936, 66). Bei Büchmann (1910: 333; zit. nach Anglizismen-Wb., 1639) heißt es dazu erklärend: Er [der Journalist des Zeitungsartikels] wählte die Zahl 10 000, weil sie zu seiner Zeit die Anzahl der gesellschaftsfähigen New Yorker war
(zum Erstbeleg im amerikanischen Englisch s. auch 3OED unter upper, 20 a).
Vom Exotismus zum integrierten Lehnwort
In deutschen Texten tritt die Verbindung zuerst in Beschreibungen der gesellschaftlichen Gegensätze im Großbritannien des viktorianischen Zeitalters auf. Geschildert werden sowohl Arbeiterproteste, die gegen die obersten Zehntausend gerichtet sind (1855), als auch der Lebensstil dieser Klasse, der durchweg als luxuriös und extravagant dargestellt wird (1861a, 1861b, vgl. 1894) und sich von dem des Mittelstandes bzw. der breiten Schichten des Publikums abhebt (1885, 1896).
Mindestens seit den späten 1870er Jahren wird die oberen Zehntausend aus dem engeren Bezug auf anglo-amerikanische Verhältnisse herausgelöst und allgemein verwendet, so etwa 1878 für die Pariser Oberschicht oder 1885 für die Besucher der Bayreuther Festspiele. Die Verbindung tritt dabei in unterschiedlichen Schattierungen auf: Sie kann eine gesellschaftskritische Haltung zum Ausdruck bringen (etwa 1907b, 1911), sie kann aber auch mit spöttischem Einschlag verwendet werden (1885, 1896) oder als neutrale Beschreibung gesellschaftlicher Hierarchien dienen (1908, 1913). Seit dem 20. Jahrhundert tritt oftmals auch die Bewunderung für den extravaganten, beneidens- und nachahmenswerten Lebensstil der so bezeichneten Schicht in den Vordergrund (1900, 1902a, 1964, 1994).
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Auf diesen Aspekt nimmt auch der Filmtitel Die oberen Zehntausend Bezug (Original 1956 High Society). In diesem Musical wird die glamouröse Lebensweise der amerikanischen Ostküsten-Oberschicht leicht ironisierend, aber weitgehend frei von Kritik vorgeführt. – Eine Korrelation zwischen der erfolgreichen Aufführung des Films und der Entwicklung des Wortgebrauchs lässt sich bislang nicht nachweisen.
Eine exklusive Schicht
Im Vergleich zu synonymen Ausdrücken wie Oberschicht oder Oberklasse akzentuiert die oberen Zehntausend stark die Exklusivität der gemeinten sozialen Gruppe: Im Vergleich zu der in die Millionen gehenden Mehrheit – der großen Masse, den unteren Volksklassen und Arbeitern (1907a, 1908, 1911) – sind zehntausend Personen nicht viel. (Unter diesem Aspekt ist der Ausdruck übrigens mit dem Wort EliteWGd vergleichbar, das mit der Ausgangsbedeutung Auslese
ebenfalls deutlich auf die Exklusivität der gemeinten Gruppe abhebt.) Der geringe Umfang der Gruppe steht dabei in einem scharfen Kontrast zu der Fülle von Prestige, Macht und Reichtum, über die sie verfügt. Neben die weitgehend wertfrei-bewundernde Akzentuierung tritt somit gelegentlich eine kritische Verwendung; die oberen Zehntausend kann damit auch als Stigmawort in politischen Auseinandersetzungen auftreten – ein Steuergeschenk für die oberen Zehntausend (vgl. 1993, 1999b) ist in einer grundsätzlich egalitären Gesellschaft per se ungerecht.
Die Upper Ten: Doppelentlehnung
Die Entlehnungsgrundlage von die oberen Zehntausend findet um 1900 ein weiteres Mal Eingang ins Deutsche, diesmal freilich als direkte Übernahme der verkürzten britisch-englischen Ausgangsform the upper ten (1902b). Auch wenn der Ausdruck, wie zu erwarten, vielfach auf Verhältnisse in den englischsprachigen Ländern angewandt wird (z. B. 1950), finden sich früh schon Belege mit breiterem Anwendungsspektrum (neben 1902b vgl. auch 1914). Ansonsten wird, ähnlich wie bei die oberen Zehntausend, in den Belegen meist auf modische Extravaganz, vorbildliche Manieren sowie die Internationalität abgehoben (neben 1902b und 1914 vgl. auch 1956, 1999a; im Beleg 1957 im Gegensatz zum NormalverbraucherWGd). Insgesamt bleibt die Upper Ten aber seltener im Vergleich zur älteren Lehnübersetzung die oberen Zehntausend.
Literatur
Anglizismen-Wb. Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945, begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse. Bd. 1–3. Berlin/New York 1993–1996.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Stiven 1936 Stiven, Agnes Bain: Englands Einfluß auf den deutschen Wortschatz. Marburg, Univ., Diss., 1935. Zeulenroda 1936.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu die oberen Zehntausend, Upper Ten.