Wortgeschichte
Ausgangspunkt: Masse als Stoffbezeichnung
Das Wort Masse ist seit dem Althochdeutschen bezeugt (AWB 6, 314); es stellt eine Entlehnung aus massalat. Klumpen, Teig, Zusammengeknetetes
dar. Im Mittel- und Frühneuhochdeutschen bedeutet es allgemein ungestalteter Stoff
sowie konkret auch Erzklumpen
oder Goldbarren
(Lexer 1, 2057, FWB 9/1, 1960 f.). Die Form ist, in Anlehnung an das Lateinische, bis ins 18. Jahrhundert noch überwiegend Massa.
Im 17. und 18. Jahrhundert wird Massa/Masse zunächst für verschiedene Arten einer Konzentration von Stoffen (meist wohl mit halbfester Konsistenz) verwendet, z. B. für Wachs oder Teig (1623, 1676, 1717). Neben einzelnen, in sich homogenen Stoffen werden auch Stoffmischungen wie z. B. die Mixturen der Pharmazie sowie die von Alchemisten hergestellten Substanzen so bezeichnet (1688, 1648). Massa/Masse steht dabei durchaus nicht nur für knetbare, (dick)flüssige Stoffe und Substanzen, die sich fest miteinander verbinden und eine Einheit bilden, sondern auch für Anhäufungen von Einzeldingen (1703) wie Schutt (1780) oder Pflanzen (1762). In der theologischen Literatur findet sich Masse/Massa gelegentlich auch für den ungeformten Urstoff
der Welt, aus dem Gott die Materie erschafft (die chaotische Massa, 1676; ähnlich bereits spätalthochdeutsch massa, s. AWB 6, 314).
Masse als Kollektivbezeichnung für Personen
Von den ältesten Bedeutungen Teig, Klumpen; ungeformter Stoff
zu der Ende des 18. Jahrhunderts auftretenden Verwendung im Sinne von großer Teil der Bevölkerung
ist es ein weiter Weg, für den zahlreiche Zwischenetappen anzunehmen sind.
Eine wichtige Vorstufe kann in quantifizierenden Verbindungen mit Adjektiven wie groß, klein u. ä. gesehen werden. Wenn von kleine[n] Massen von Siegelwachs (1717), kleinen Massen Fett (1762), einer gewissen Masse Brot (1740) oder einer großen Masse Schuttes (1780) die Rede ist, so sind diese Belege immer auch als Mengenangaben interpretierbar. Anders gesagt: Der Formaspekt, d. h. dass z. B. das Wachs oder Fett in Klumpen oder der Schutt als Haufen vorliegt, ist sehr eng mit einem Quantitätsaspekt verbunden – wo Schutt in Form eines Haufens liegt, ist normalerweise auch eine große Menge Schutt vorhanden. Bei dem subtilen Bedeutungsübergang, der hier greifbar wird, handelt es sich somit um eine metonymische Verschiebung von einem Formaspekt zu einem damit verbundenen Quantitätsaspekt. Als Parallele kann man übrigens den Wandel von ein (großer) Haufen von etwas anführen: Haufen ist hier sowohl als Konkretum Anhäufung von Einzelnem
wie auch als Quantitätsangabe viel von etwas
zu lesen (zu diesem Wandel s. 1DWB 10, 586 f.).
Frühes Vorkommen in Komposita Volksmasse, Menschenmasse
Eine weitere Quelle für den personenbezogenen Gebrauch des Wortes ist wohl auch in Komposita wie Volksmasse (1776, 1776, 1791c) und Menschenmasse (1786) zu sehen. Hier wird das Zweitglied Masse metaphorisch verwendet, also etwa im Sinne von Volkssubstanz
(so auch beim Simplex im Beleg 1791b). Die ältere Bedeutung Stoff, Substanz
scheint z. B. in den Belegen 1791c und 1791d noch durch, da hier in unterschiedlicher Weise von Mischen
die Rede ist – gemischt werden üblicherweise Stoffe und Substanzen. Auch im Beleg 1786 wird die Menschenmasse als den Einzelnen fast erdrückende Zusammenballung von Stoff imaginiert, so dass auch hier die Übertragungsgrundlage noch präsent ist.
Masse als Simplex
Als eigenständiges Substantiv mit Personen als Bezugsgröße wird Masse erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts verwendet, und zwar in der Verbindung (große) Masse des Volks (1791a, vgl. 1794, 1797). Für das Aufkommen des Simplex in dieser Bedeutung ist auch eine Auflösung des älteren Kompositums denkbar: die große Volksmasse wird zur großen Masse des Volks.
Die große Masse des Volks (in Brüssel) im Beleg 1791a ist als der größte Anteil, die Mehrheit der Menschen (in Brüssel)
zu interpretieren. Es liegt nahe, diese Lesart als Erweiterung der (oben beschriebenen) quantifizierenden Bedeutung große Menge von etwas
zu verstehen, die nunmehr zusätzlich zu unbelebten Bezugsgrößen auch auf Menschen angewandt wird: Eine große Menge
von Menschen, die sich irgendwo befindet, wird dort im Normalfall auch die Mehrheit bilden. Mit der hier erstmals greifbar werdenden Bedeutung Mehrheit des Volks, Bevölkerungsmehrheit
hat sich eine für die jüngere Sprachgeschichte zentrale Lesart des Wortes Masse herausgebildet.
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Auffällig ist, dass die Belege für Masse von 1794 und 1797 einen gewissen Bezug zu Frankreich bzw. zur Französischen Revolution aufweisen. Dies würde zu der bei Pfeifer unter MasseDWDS vertretenen These passen, dass Masse in der personenbezogenen Bedeutung aus massefrz. übernommen ist. Immerhin kann la masse du peuple die Mehrheit des Volks
laut 1DHLF 1, 1290 bereits für 1789 belegt werden. Deutsch Volksmasse/Menschenmasse ist allerdings älter (1776 und 1786), so dass eine eigenständige Entwicklung im Deutschen durchaus im Bereich des Möglichen ist. Auch weist nicht jeder der Frühbelege einen direkten Bezug zu Frankreich auf (vgl. 1791a).
Die Tatsache, dass der Plural die Massen recht häufig ist, könnte indes sehr wohl auf das französische Vorbild les masses zurückgehen, dazu TLFi unter masse¹ C 2.
Masse im 19. Jahrhundert: Wertungen um Umwertungen
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hat das Wort Masse, wie dargelegt, zwei personenbezogene Bedeutungen ausgebildet, nämlich Menschenmenge, -ansammlung
sowie Mehrheit einer Bevölkerung
. Als Menschenmenge
kann es auch sehr konkret verwendet werden, etwa in Bezug auf die Menschenansammlung an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Anlass (1811). In beiden Lesarten ist es auffällig oft negativ konnotiert (dies gilt bereits für Volksmasse 1776, 1803): Massen haben Neigungen und Begierden, die bekämpft werden müssen (1794), sie üben Tyranney aus (1810), sind gemein (1828), ewig unzufrieden (1831) oder fanatisiert (1836). Im Zusammenhang mit Kunst wird Masse oft äußerst kritisch beurteilt, z. B. als wenig wählerisch und ohne Geschmack (1851). Neutrale Belege finden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts selten, z. B. 1840. Generell ist Masse/Massen klar auf die besitzlose, ärmere Bevölkerung
bezogen, die in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Das Wort reflektiert somit gewissermaßen die tiefen gesellschaftlichen Umbrüche, die mit der Industrialisierung einhergehen: die Verstädterung, den Zerfall traditioneller Sozialstrukturen und vor allem die Entstehung einer breiten Schicht von Arbeitern.
Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Karl Marx und Friedrich Engels das Wort Masse bzw. den Plural Massen ausdrücklich positiv besetzen. In den Gründungsschriften des Marxismus werden die Massen nicht nur als Opfer kapitalistischer Ausbeutung beschrieben; sie treten vor allem auch als eigenständiger weltgeschichtlicher Akteur auf, der seine eigene Emanzipation betreibt (so zuerst 1848 in der von Marx herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung). In dieser Verwendung wird der Plural Massen zum Schlüsselwort des Marxismus-Leninismus (dazu HKWM 9/1, 15–34), das sich im Deutschen bis zum Ende der DDR findet (z. B. 1979).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts macht das Wort aber auch jenseits des marxistisch geprägten Sprachgebrauchs Karriere, und zwar nicht zuletzt auf der anderen, konservativen Seite des politischen Spektrums. Dabei kommt in der Regel eine stark kulturkritische Position zum Ausdruck (vgl. HWPh 5, 828 f.): Massen sind anonym, gesichtslos, sie sind mehr Objekt als Subjekt gesellschaftlichen Handelns, sie verhalten sich irrational, sind Affekten ausgeliefert und damit leicht manipulierbar (vgl. die oben zitierten Belege, etwa 1828). Masse bildet somit einerseits einen Gegensatz zum selbstbestimmt und rational handelnden Individuum sowie zur EliteWGd (1837), es steht andererseits auch in Opposition zum weitgehend positiv konnotierten Kollektiv des Volks.
Massenpsychologie
Dieser kritische Wortgebrauch des 19. und dann auch des 20. Jahrhunderts, der durchaus als Fortsetzer der älteren Verwendungen des 18. Jahrhunderts angesehen werden kann (s. o. den Abschnitt Masse als Simplex), steht in einem engen Zusammenhang mit dem Aufkommen der Massenpsychologie, die vor allem durch das im deutschsprachigen Raum stark rezipierte Werk Psychologie der Massen von Gustave Le Bon (Le Bon 1908) sowie durch Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (Freud 1925) wichtige Impulse erhält. Bei Le Bon werden die Massen als zerstörerische Grundkraft der Geschichte beschrieben, ihre Emanzipation in der Moderne bedeute eine elementare Bedrohung für die Kultur:
Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung. [1908]
Massen bedürfen nach Le Bon daher der Führung durch einen Staatsmann, der die Emotionalität, Irrationalität und die daraus resultierende Verführbarkeit der Massen einkalkuliert und sich zunutze zu machen weiß (Le Bon 1908, 29).1)
Auch Komposita wie Massenhysterie (1904), Massenpanik ( 1906) und Massenpsychose (1911) sind durchaus vor dem Hintergrund des ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Stereotyps der ihren Affekten ausgelieferten Masse zu sehen. Ursprünglich individualpsychologische Termini2) werden auf ein Kollektiv übertragen, die Masse damit als beseeltes Individuum imaginiert. Massenpsychose funktioniert dann vor allem als Erklärungsmuster für die Verführbarkeit von Menschen durch kommunistische Demagogen und Ideologien (vgl. u. a. 1934). Auf direkten Einfluss Le Bons geht wohl die Prägung Massenseele (1912, 1929) zurück.
In der Propaganda der NS-Zeit wird Masse im Sinne von Mehrheit der Bevölkerung
auch positiv auf das deutsche Volk bezogen, das angeblich kollektiv das Regime unterstützt (1943b). Besonders zahlreich in der Presse der NS-Zeit, vor allem 1933 bis zu den ersten Jahren des Krieges, sind natürlich auch Belege, in denen jubelnde, begeisterte Menschenansammlungen in Erscheinung treten (vgl. 1938). Der etablierte konzeptuelle Zusammenhang von Bevölkerungsmehrheit; Volksmenge
und Affekt
findet sich hier in einer besonderen Färbung, da es sich um uneingeschränkt positive Gefühle bzw. Gefühlsäußerungen handele, von denen die Masse ergriffen wird.
Eine abermalige Wendung erfährt das Stereotyp von der verführbaren, emotionalisierten Masse in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Die als gegeben vorausgesetzte Manipulierbarkeit der Massen durch starke Führer wird nun als zentrale Deutungsfigur für die Verbrechen des Nationalsozialismus eingeführt, die den Einzelnen von seiner Verantwortung entlastet.3)
Nachkriegszeit: Massenmedien und Massentourismus
Sieht man vom Weiterleben von Verbindungen wie die Masse der Werktätigen, die werktätigen, proletarischen Massen (1950, 1959) im offiziellen Sprachgebrauch der DDR ab, ist die Wortgeschichte der Nachkriegszeit dann vor allem durch neue Komposita wie Massenkommunikation (1957b), Massenmedien (1957a) und Massentourismus (1954) geprägt. Massenmedien folgt dabei wohl dem Vorbild von englisch mass media (im ³OED seit 1923 belegt, und Massenkommunikation ist wahrscheinlich nach dem älteren englischen mass communication gebildet, s. ³OED zuerst 1927). Die Motivation bleibt allerdings etwas vage: Das Erstglied kann sowohl auf die Lesart breite Bevölkerungsmehrheit
bezogen als auch mit der quantifizierenden Verwendung (s. o.) große Menge von, in großem Umfang
verbunden werden.
Für die jüngere Sprachgeschichte scheinen sowohl der kulturkritische als auch der ideologisch aufgeladene Wortgebrauch an Bedeutung zu verlieren; dies ist natürlich auch auf das Verschwinden des sozialistischen Jargons mit dem Ende der DDR zurückzuführen. Diskurse um das Verhältnis von Masse und Individuum scheinen jedenfalls kaum mehr die einstige Relevanz zu besitzen.
Anmerkungen
1) Zu Le Bon und zum massepsychologischen Diskurs vgl. auch Gamper 2007, 426–434.
2) Psychose steht im 19. Jahrhundert sowohl für Geisteskrankheit
als auch für Zustand ungewöhnlich starker seelischer Erregung
(s. Pfeifer unter PsychoseDWDS; vgl. bei Pfeifer auch die Einträge HysterieDWDS und PanikDWDS).
3) Näheres dazu im Artikel Masse des Projekts Schulddiskurs 1945/1955; hier ist als prominente Auseinandersetzung mit dieser Problematik von allem Elias Canettis Masse und Macht (1960) zu nennen.
Literatur
AWB Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1 ff. Berlin 1968 ff. (saw-leipzig.de)
2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
Freud 1925 Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Hamburg 2010 [Text der Ausg. von 1925].
FWB Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Robert R. Anderson [für Bd. 1]/Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [ab Bd. 5], Oskar Reichmann. Bd. 1 ff. Berlin u. a. 1986 ff. (fwb-online.de)
Gamper 2007 Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930. München 2007.
HKWM Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug. Bd. 1 ff. Hamburg 1994 ff.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Le Bon 1908 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Übers. nach der 12. Aufl. von Dr. Rudolf Eisler. Leipzig 1908 [frz. Originalausg. Paris 1896].
Lexer Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabethischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. Bd. 1–3. Leipzig 1872–1878. (woerterbuchnetz.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Masse, Massenpsychose, Massenhysterie.