Wortgeschichte
Der Normalverbraucher in der Kriegs- und Nachkriegswirtschaft
Das Wort Normalverbraucher kommt im Kontext der Kriegswirtschaft auf (1939, 1940). Es bezeichnet den Empfänger einer durchschnittlichen Lebensmittelration ohne die Zulagen, die nur einem eingeschränkten Kreis, etwa Schwerarbeitern der Rüstungsproduktion, zustanden. In der Mangelwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Wort weiter in dieser Bedeutung verwendet – Normalverbraucher sind auch in dieser Zeit alle, die über Bezugsmarken die durchschnittliche Zuteilungsmenge von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs erhalten (s. dazu unter vielen vergleichbaren Belegen 1945, 1946).
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass das seit dem späten 18. Jahrhundert überlieferte Grundwort Verbraucher eine umfassendere Bedeutung hat, da es sich nicht allein auf lebensnotwendige Waren, sondern auf den Konsum aller möglichen Güter bezieht, was prinzipiell z. B. auch Luxusgüter einschließen kann (vgl. die Bedeutungsangabe zu VerbraucherDWDS). In Normalverbraucher tritt somit insofern eine verengte Bedeutung des Wortes Verbraucher in Erscheinung, als sich Verbraucher hier vorwiegend auf lebensnotwendige Waren bezieht.
Ein Film als wortgeschichtliches Schlüsselereignis: Robert Stemmles Berliner Ballade (1948)

Abb. 1: Schriftlicher Erstbeleg für „Otto Normalverbraucher“
Berliner Ballade, Spielfilm. Regie: Robert A. Stemmle, Drehbuch: Günter Neumann. Comedia-Filmgesellschaft mbH, München. Deutschland (West) 1948, 00:07:39. | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Ein nicht zu unterschätzender Faktor für den weiteren Wortgebrauch ist aber wohl vor allem in einem Medienereignis zu sehen, nämlich in Robert A. Stemmles Film Berliner Ballade (1948), einem sogenannten Trümmerfilm mit satirischem Einschlag. Die Hauptfigur ist ein Kriegsheimkehrer namens Otto Normalverbraucher (gespielt von Gerd Fröbe), der in der neuen Normalität der unmittelbaren Nachkriegsjahre Fuß zu fassen sucht (vgl. dazu auch das Standbild in der Abbildung). Der Protagonist des Films wird dort explizit als typischer Repräsentant seiner Zeit dargestellt (so durch Erzählerkommentare wie: Die Mehrzahl der Berliner waren damals sogenannte Normalverbraucher
[00:02:47], Otto Normalverbraucher tat, was viele damals taten
[00:11:59]). Indem das Wort Normalverbraucher in Verbindung mit dem geläufigen Vornamen Otto als Familienname verwendet wird, kann dieser metonymische Funktion einnehmen – ein durchschnittlicher Bezieher von Lebensmittelkarten mit dem fiktiven Namen Otto Normalverbraucher steht ein für den Durchschnittsbürger seiner Zeit.1) Diese Metonymie setzt gleichzeitig voraus, dass der Bezug von Lebensmittelkarten als ein für die Zeit prägendes Merkmal konzeptualisiert wird – was in dem Film sehr deutlich zum Vorschein kommt.
Die in Berliner Ballade thematisierten Verhältnisse sind allerdings schon rund ein halbes Jahr vor der Filmpremiere am 31. 12. 1948 zumindest ein Stückweit überholt: Mit der im Juni 1948 durchgeführten Währungsreform, der dann folgenden Abschaffung der Güterzuteilung über Karten sowie dem rasch einsetzenden Wirtschaftswunder
hat der Ausdruck Otto Normalverbraucher schlagartig seinen lebensweltlichen Bezugsrahmen eingebüßt (vgl. den Beleg 1950, in dem schon rückblickend vom Normalverbraucher der Reichsmarkzeit
die Rede ist, sowie 1951a mit dem Synonym Markenkunde). Gleichwohl bleibt das Wort im Gebrauch, nun freilich nicht mehr als Empfänger einer durchschnittlichen Lebensmittel- bzw. Güterration
, sondern als Durchschnittsbürger
(so etwa schon 1951b – hier in Verbindung mit Lieschen MüllerWGd als weiblichem Pendant – sowie 1952).
Der Durchschnitt als Maßstab und als Gegenstand der Kritik
Otto Normalverbraucher als tendenziell salopper Ausdruck für Durchschnittsbürger
hält sich bis in die Gegenwart und ist offenbar vor allem in Zeitungstexten präsent. Die Bedeutung der Verbindung kann nach zwei Seiten hin moduliert werden: Otto Normalverbraucher wird zum einen als maßstabsetzende gesellschaftliche Instanz inszeniert, auf den die Politik unbedingt zu achten habe und der vor Benachteiligung zu schützen sei (weil er typischerweise immer drauf zahlt
bzw. die Zeche zahlen muss
, vgl. 1994, 2005). Dieser positiven bzw. neutralen Konzeptualisierung steht eine abwertende Bedeutungsnuancierung gegenüber: Der Otto Normalverbraucher stellt weder gehobene Ansprüche an sich oder seine Umwelt noch verfügt er über besondere Qualitäten, ihm haftet daher etwas Spießbürgerliches an (1982; s. auch SpießbürgerWGd).
Morphologische Reanalyse: der Durchschnittskonsument
Das Wort Normalverbraucher kommt auch nach 1948 noch eigenständig vor. Es bedeutet dann zum einen ebenfalls Durchschnittsbürger
(z. B. 1974), zum anderen erfährt es dadurch, dass das Zweitglied semantisch an das Simplex Verbraucher angeschlossen wird (s. VerbraucherDWDS), eine Neuinterpretation seiner morphologischen Bestandteile. Es wird dementsprechend meist in ökonomischen Zusammenhängen verwendet und ist dann weniger als Durchschnittsbürger
denn als Käufer einer Ware, Verbraucher mit durchschnittlichen Ansprüchen, durchschnittlicher Kaufkraft
zu interpretieren (vgl. bereits 1957 und dann 1977).
Max Mustermann und Normalo: neue lexikalische Entsprechungen seit den 1990er Jahren
Vor allem in der Umgangssprache treten seit den 1990er Jahren neben Otto Normalverbraucher weitere Bezeichnungen für Durchschnittsbürger
. Hier wäre Max MustermannWGd zu nennen, eine Analogiebildung zu dem wohl 1978 als Platzhaltername in behördlichen Dokumenten eingeführten Erika MustermannWGd. Ab den 2000er Jahren wird der Platzhaltername Max Mustermann dann auch übertragen in der Bedeutung Durchschnittsbürger
verwendet (vgl. 2006).
Seit Mitte der 1980er Jahren ist umgangssprachlich auch Normalo in Gebrauch, eine wohl ursprünglich jugendsprachliche Bildung mit dem personenbezeichnenden Suffix -o, das sich z. B. auch in Fascho, Realo, Prolo findet (vgl. 1986; zum Wortbildungsmuster Androutsopoulos 1998, 122). Als Bedeutung von Normalo wird im DWDS angegeben: jmd., der in seiner äußeren Erscheinung, seinem Verhalten, seinen Einstellungen o. Ä. den allgemeinen Vorstellungen, Erwartungen entspricht, nicht auffällt
, s. DWDS unter NormaloDWDS.
Anmerkungen
1) Zu Otto als geläufigem Vornamen s. auch 4DUW, 1173.
Literatur
Androutsopoulos 1998 Androutsopoulos, Jannis K.: Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt a. M. 1998.
Berliner Ballade Berliner Ballade, Spielfilm. Regie: Robert A. Stemmle, Drehbuch: Günter Neumann. Comedia-Filmgesellschaft mbH, München. Deutschland (West) 1948. (filmportal.de)
4DUW Duden – Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. von der Dudenredaktion. 4., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim u. a. 2001.
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Otto Normalverbraucher, Normalverbraucher, Normalo.