Wortgeschichte
Herkunft: Warum Spieß?
Im Hinblick auf die Herkunft des Wortes wirft vor allem das Erstglied Spieß Fragen auf: Was hat eine ,engstirnige, geistig unflexible, sich ängstlich an Konventionen haltende Person‘ mit einem Spieß1) zu tun? Einen Herleitungsversuch hat bereits Johann Christoph Adelung Ende des 18. Jahrhunderts vorgelegt. In seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch
wird Spießbürger erklärt als
eine ehemahlige Benennung derjenigen Bürger, welche mit Spießen bewaffnet waren, zu Fuße dieneten, und auch Glefenbürger hießen. Jetzt gebraucht man es nur im verächtlichen Verstande von einem jeden geringen Bürger, vielleicht weil man zu den Spießbürgern nur die ärmsten und untauglichsten wählete, dagegen die reichern bessern zu Pferde dieneten [2Adelung 4, 204].
Die Schwierigkeit dieser Erklärung, die sich in abgewandelter Form auch noch in aktuellen etymologischen Wörterbüchern findet (vgl. 25Kluge, 867; Pfeifer unter SpießbürgerDWDS), besteht darin, dass ihr eine ausreichende Quellenbasis fehlt. Bereits im ältesten Beleg, über den wir bislang verfügen (1640), ist Spießbürger eine abwertende Bezeichnung für Normalbürger
(vgl. auch 1717, 1754). Weitere frühe Belege sind entweder historisierend (1719) oder enthalten ihrerseits einen Versuch, die Herkunft des Wortes zu erklären (1672). Die bislang einzige Textstelle, in der das Wort wohl tatsächlich mit Spießen bewaffneter, einfacher Bürger
bedeutet, wird im DRW 13, 964 f. nachgewiesen (1744, hier mit der Bedeutungsbeschreibung Bürger, welcher der Pflicht zum Waffendienst in eigener Person und mit einem (schlichten) Spieß nachkommt
). Der im DRW zitierte Beleg ist allerdings mehr als hundert Jahre jünger als die erste Bezeugung des Wortes und daher nur eingeschränkt aussagekräftig. Dass Adelungs Herkunftshypothese sich trotz ihrer schwachen Quellengrundlage bis in die Gegenwart gehalten hat, dürfte vor allem darin begründet sein, dass sie plausibel klingt: Ein unberittener, nur mit einem Spieß statt einem Degen oder einer Schusswaffe bewaffneter Bürger, der zudem nicht in der Lage ist, sich einen bezahlten Stellvertreter für seinen Militärdienst zu leisten, kann in der Tat als Prototyp des kleinen MannesWGd gelten. Die Plausibilität einer Erklärung kann freilich eine fehlende Quellenbasis nicht ersetzen.
Spießbürger, Glefenbürger, Pfahlbürger
Alternativ zu den Herkunftshypothesen in der Tradition Adelungs wäre aber im Anschluss an den Beleg 1719 noch eine weitere Herleitung in Betracht zu ziehen. In dem genannten Beleg ist von Personen die Rede, die sich Roß / oder andern Kriegs=dienste halben / als Bürger einschreiben lassen
und die deshalb Spießbürger oder Clevenbürger
(von Glewe einer Lantzen
) genannt wurden. Daraus wäre zu folgern, dass es sich bei einem Spießbürger gerade nicht um einen einfachen, durchschnittlichen Bürger einer Stadt, sondern gewissermaßen um einen Bürger zweiter Klasse handelt, der sein Bürgerrecht erst über den Militärdienst erworben hat.2) Wenn einem Spießbürger also zunächst geringerer Status zukam, liegt es nahe, dass sich hieraus eine abwertende Bezeichnung entwickelt hat.
Mit Pfahlbürger wäre auch eine aussagekräftige Parallelentwicklung für die hier skizzierte Herleitung von Spießbürger zu nennen. Unter Pfahlbürgern sind nach 1DWB 7, 1598 ebenfalls Bürger zu verstehen, die nicht zu den richtigen
Bürgern zählen, in diesem Fall allerdings nicht, weil sie erst über ihren Militärdienst das Bürgerrecht erlangen, sondern weil sie in den mit Palisaden (Pfählen) geschützten Vorwerken außerhalb der Stadtmauern wohnen. Auch die Pfahlbürger sind somit in gewisser Weise als Bürger zweiter Klasse zu beschreiben. Für das Wort Pfahlbürger hat sich dementsprechend im Laufe des 18. Jahrhunderts ein deutlich abwertender Gebrauch (einfältige, provinzielle Person
) herausgebildet (1778, vgl. 1898 sowie die Belege in 1DWB 7, 1598).
Spießbürger als Ausdruck der Studentensprache?
Spießbürger ist von Bezeugungsbeginn an eine grundsätzlich abwertende Bezeichnung. Im Erstbeleg 1640 wird das Wort als eine von mehreren Bezeichnungen aufgeführt, mit denen sich die Studenten vom gesellschaftlichen Durchschnitt zu distanzieren suchen. Möglicherweise handelt es sich deshalb ursprünglich um einen Ausdruck, der von Studenten geprägt wurde (so Pfeifer unter SpießbürgerDWDS, 10Paul, 938). Wenn dem so wäre, hätte das Wort freilich schon sehr früh sein studentensprachliches Gepräge verloren, da für das 18. Jahrhundert offenbar keine weiteren Belege für einen solchen Verwendungszusammenhang greifbar sind. Da wir nur über den Beleg von 1640 verfügen, fehlt für eine gesicherte Beurteilung dieser Herkunftshypothese die empirische Grundlage.
Abwertender Gebrauch
Die Abwertung der Personen, auf die sich Spießbürger bezieht, ist als Konstante des Wortgebrauchs zu beschreiben, die von der ältesten Bezeugung bis in die Gegenwart reicht. Die abwertende Zielrichtung tritt auch in den Attributen, die das Wort kennzeichnen, deutlich zu Tage: Spießbürger sind hirnlos (1800), einfältig (1858), feist und selbstzufrieden (1900a), blöde (1923) und ihnen eignet ein kleinlicher, neidischer Sinn (1840). Die geistige Beschränktheit, der enge Horizont und das Provinzielle des Spießbürgers wird auch durch Oppositionsbildungen akzentuiert. So steht Spießbürger im Gegensatz zum Philosophen (1779), zum Weltbürger (1796, 1863) bzw. zur eleganten Welt (1844).
Im Laufe der Zeit sind allerdings Verschiebungen im Hinblick auf die negativen Eigenschaften zu verzeichnen, die einem Spießbürger jeweils zugeschrieben werden. So finden sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts Belege, in denen der Spießbürger nicht nur als intellektuell beschränkt, sondern auch als emotional verkümmert dargestellt wird (1804 in Bezug auf musikalisches Empfinden, 1852, 1856a, 1887). Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders während der 1848er-Revolution, treten dann weitere Bedeutungsaspekte hinzu: In der progressiven Presse werden Spießbürger als reaktionäre Kräfte verhöhnt, die notwendigen politischen Veränderungen ablehnend und verständnislos gegenüberstehen (1848a, 1848b, hier mit dem prägnanten Synonym Berliner Weißbierphilister). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber ab dem 20. Jahrhundert tritt ein weitere stereotype Eigenschaftszuschreibung hinzu: Spießbürger werden nun nicht allein als einfältige, aber sonst harmlose Gestalten thematisiert; ihre Engherzigkeit und Engstirnigkeit kann vielmehr auch in Aggression und Brutalität umschlagen. Dementsprechend verschiebt sich auch das Spektrum der Prädikate, die auf Spießbürger bezogen sind. Diese können dem wildesten Fanatiker folgen (1855), sie toben und sind wildgeworden (1914), sie errichten ein rohes System von Brutalität, Feigheit und Herrscherwahnsinn (1927) und haben sich im Nationalsozialismus als blonde Bestien (1951) aufgeführt.
Spießbürger als Durchschnitt
Vor dem Hintergrund der überwiegend negativen Charakterisierungen, die das Wort ausdrückt, mag es überraschend erscheinen, dass sich für Spießbürger im Ansatz auch positiv gefärbte Verwendungsweisen herausgebildet haben. Diese Bedeutungsverbesserung nimmt von ironisch-humoristischen Wortgebräuchen ihren Ausgang, in denen die geistige Beschränkung ins Idyllische gewendet und als Grundbedingung für Zufriedenheit und bürgerliche Solidität dargestellt wird. Geistige Beschränkung und Provinzialität werden hier somit metonymisch mit Behaglichkeit in Beziehung gesetzt. In den entsprechenden Belegen ist freilich schwer zu entscheiden, ob dies belächelt oder eben doch mit Sympathie betrachtet wird (1790, 1826, 1827, 1856a, 1861, 1932). In einigen Fällen scheint sich das Wort dann zu einer weiteren Bezeichnung für den in einfachen Verhältnissen lebenden und etwas einfach gestrickten Durchschnittsbürger
entwickelt zu haben (1856b, 1900b, 1900c, 1920, 2017, vgl. dazu kleiner MannWGd, Mann auf der StraßeWGd).
Anmerkungen
1) Das Wort Spieß selbst hat eine komplexe Geschichte: In dem gegenwartssprachlichen Wort sind aufgrund lautlicher und semantischer Ähnlichkeit zwei ältere Wörter zusammengefallen: mittelhochdeutsch spiez Jagdspieß
und mittelhochdeutsch spiz Bratspieß
; vgl. dazu 25Kluge, 867 und Pfeifer unter 1Spieß, 2SpießDWDS.
2) Laut DRW 4, 937 sind Glefenbürgern lanzentragende Soldaten, welche gegen ein zehnjährig erhaltenes Bürgerrecht der Stadt Kriegsdienste leisten
; zu Glefenbürger s. 1DWB 7, 7934 mit weiteren einschlägigen Belegen.
Literatur
2Adelung Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 2. vermehrte und verbesserte Ausg. Bd. 1–4. 2. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1793–1801. Hildesheim u. a. 1990. (woerterbuchnetz.de)
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Spießbürger, Glefenbürger, Pfahlbürger.