Wortgeschichte
Klein- und Großbürger als neutrale Standesbezeichnung
Die Bezeichnungen Großbürger (seit dem 16. Jahrhundert) und Kleinbürger (seit dem 17. Jahrhundert) treten zunächst als neutral-beschreibende Rechtstermini in Erscheinung (vgl. DRW 4, 1126 und 7, 1078 f.). Sie benennen unterschiedliche Formen des Bürgerrechts in einer Stadt, stehen aber früh schon in engem Zusammenhang mit einer ökonomischen Differenzierung zwischen Arm und Reich (vgl. 1DWB 9, 521 sowie die Belege 1668 und 1844).
Diese ökonomischen Kriterien gewinnen im 18. und 19. Jahrhundert offenbar zunehmend an Gewicht (vgl. 1715, 1846).1) In diesem Sinne sind Großbürger die wohlhabenden Angehörigen der bürgerlichen Oberschicht
und Kleinbürger die einfachen, wenig wohlhabenden Angehörigen der Mittelschicht
, also meist Handwerker, kleinere Kaufleute und Beamte. Die Kleinbürger werden insgesamt allerdings eher am unteren Ende der bürgerlichen Gesellschaftshierarchie angesiedelt und stehen damit nur noch über den Arbeitsleuten und Dienstboten (1785).
Bedeutungsverschlechterung: Der Kleinbürger als Spießbürger
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzt allmählich eine Bedeutungsverschlechterung des Wortes Kleinbürger ein. In der sozialistischen Presse aus der Zeit der Revolution von 1848/49 werden vor allem diejenigen Bürger als Kleinbürger tituliert, die sich der revolutionären Bewegung entweder gar nicht oder nicht mit der gewünschten Radikalität anschließen mögen (1848, 1867); in den Schriften von Karl Marx, aber auch bei liberalen Autoren zeichnen sie sich besonders durch ein eingeschränktes Auffassungsvermögen und Philisterhaftigkeit aus (1867, 1869, 1882). Kleinbürger ist damit eine geistig beschränkte, engherzige Person
, ein SpießerWGd. Belege für die neutral-beschreibende Lesart findet sich nur noch selten (vgl. 1863).
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lagern sich immer mehr negative Konnotationen an das Wort an: Kleinbürger sind nicht nur geistig beschränkt (1882), sondern auch behäbig (1911), verlumpt (1900a) oder pedantisch (1918). Das Adjektiv kleinbürgerlich hat sich dementsprechend zu einem Synonym des ebenfalls abwertenden Adjektivs spießbürgerlichWGd entwickelt (1900b, 1927, 1989a, 2006).
Der Großbürger und der Charme der Bourgeoisie
In Texten der sozialistischen Bewegung tritt der Großbürger zwar gelegentlich als negatives Zerrbild auf (1907). Zum politischen Stigmawort entwickelt sich Großbürger jedoch allenfalls im Ansatz, und insgesamt hat das Wort keine derart signifikante Bedeutungsverschlechterung erfahren wie sein Gegenstück Kleinbürger (vgl. 1930, 1985). Dies ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass mit BourgeoisWGd bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein abwertender Ausdruck vorhanden ist.
Auch das Adjektiv großbürgerlich, das wie kleinbürgerlich seit Mitte des 19. Jahrhunderts belegt ist (1856, 1888), wird, trotz einiger deutlich abwertender Verwendungen, häufig eher neutral auf Geschmack, Kultur oder auch auf bestimmte Haltungen und Einstellungen bezogen (1856, 1962, 1964, 1989b). Dies kann durchaus kritisch gemeint sein, ebensowenig wie Großbürger hat sich das Adjektiv großbürgerlich indes nie zu einem politischen Schlagwort entwickelt.
Anmerkungen
1) Im Französischen bereits des 17. Jahrhunderts entspricht dem der Gegensatz von gros bourgeois und petit bourgeois, s. TLFi unter bourgeois.
Literatur
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Großbürger, Kleinbürger, großbürgerlich, kleinbürgerlich.