Vorschauansicht

Mann auf der Straße

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Die Verbindung der Mann auf der Straße im Sinne von Durchschnittsbürger kommt um 1920 auf. Der Mann auf der Straße wird dabei häufig in einen Gegensatz zu Experten oder Intellektuellen gebracht. Die Komponente auf der Straße steht einerseits für den öffentlichen Raum, andererseits ist die Straße auch die Domäne, die typischerweise den einfachen Menschen zugeordnet ist, während die Priviliegierten einer Gesellschaft über die Möglichkeit der Absonderung (etwa in ihren Palästen und Studierstuben) verfügen. Die Bedeutung Durchschnittsbürger verweist somit auf einen Menschen, der im öffentlich-alltäglichen und typischerweise den einfachen Leuten vorbehaltenen Raum anzutreffen ist.

Wortgeschichte

Der Mann auf der Straße und sein gesunder Menschenverstand

Zu den Wortverbindungen, die Durchschnittsbürger bezeichnen, gehört neben Otto NormalverbraucherWGd und der kleine MannWGd bzw. die kleinen LeuteWGd auch die Verbindung der Mann auf der Straße. Sie ist ab den 1920er Jahren bezeugt (1921, 1922, 1930) und wird auch synonym mit Masse des Volks verwendet (1922).1)

In den einschlägigen Belegen wird der Mann auf der Straße häufig in einen Gegensatz gebracht zu Experten und ihrem Wissen (1927, 1930; in den Belegen 1929 und 1955 explizit im Gegensatz zu den Intellektuellen bzw. Professoren). Es geht also offenbar weniger um die Thematisierung von Machtverhältnissen wie dies tendenziell bei der kleine MannWGd der Fall ist; vielmehr wird gewissermaßen der gesunde Menschenverstand des Durchschnittsbürgers hervorgehoben, der bestimmte Dinge klar zu erfassen oder gerade nicht zu erfassen vermag und der ggf. auch griffige Formulierungen findet (1999).

Zur Motivation der Verbindung

Die Motivation der Verbindung liegt nicht unmittelbar auf der Hand: Was hat auf der Straße mit dem Bedeutungsaspekt normal, durchschnittlich zu tun? Die Straße steht zunächst metonymisch für Öffentlichkeitauf der Straße, d. h. außerhalb des privaten Bereichs, den Haus und Wohnung bieten, treffen die Menschen aufeinander und kommunizieren miteinander (vgl. 1DWB 19, 900–901 unter Straße. Die Straße ist freilich auch die Domäne, die typischerweise den einfachen Menschen zugeordnet wird. Privilegierte – der Adel, die Begüterten – nehmen am Leben auf der Straße als öffentlichem Raum nicht teil, sie sondern sich vielmehr ab (in ihren Schlössern, Häusern, Studierstuben). Die Möglichkeit, sich räumlich von anderen zu distanzieren, das Verfügen über separate, private Bereiche, ist jedenfalls als Privileg zu betrachten, das einer Mehrheit nicht oder nur bedingt zugänglich war.

Europäische Parallelen

Wie bei der kleine MannWGd handelt es sich auch bei der Mann auf der Straße um eine Verbindung, für die es Entsprechungen außerhalb des Deutschen gibt. Für das Französische ist hier l’homme de la rue zu nennen (TLFi unter homme, für das Englische the man in (on) the street (3OED unter street P 5). In beiden Fällen ist, wie im Deutschen, der Durchschnittsbürger gemeint, vor allem im Gegensatz zum Experten. Ob diese parallelen Verbindungen (die ggf. auch noch in weiteren europäischen Sprachen zu finden sind) unabhängig voneinander entstanden sind oder ob eine jeweils Vorbild für die anderen gewesen sein könnte, bliebt unklar. In jedem Fall ist die englische Verbindung laut ³OED schon für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu belegen, während die deutsche (und nach Auskunft des TLFi) wohl auch die französische Verbindung erst im 20. Jahrhundert greifbar werden.

Anmerkungen

1) Zur Verbindung Der kleine Mann auf der Straße, in der der kleine Mann und der Mann auf der Straße gekreuzt sind, s. die Ausführungen unter kleiner MannWGd.

Literatur

1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

TLFi Trésor de la langue française informatisé (Trésor de la langue française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)

Belegauswahl

Wahrscheinlich glaubt sogar der „Mann auf der Straße“ in Paris und London nicht einmal, daß man mit allen „Sanktionen“ der Welt diese Milliardensumme erhält.

Vossische Zeitung (Morgen-Ausgabe), 9. 3. 1921, S. 1. [DWDS]

Die Wahlen, deren Vorbereitungen jetzt bald begonnen werden sollen, werden nach der allgemeinen Auffassung zeigen, daß der „Mann auf der Straße“, die Masse des Volkes, mit der Politik der Unionisten nicht zufrieden ist.

Berliner Tageblatt (Abend-Ausgabe), 7. 3. 1922, S. 1. [DWDS]

Keine komplizierte, ausgeklügelte, hyperoriginelle Idee, nein, eine einfache Columbusidee, die auch der Mann auf der Straße begreifen kann, die gibt die beste Grundlage für ein aussichtsreiches Geschäft.

Fessler, Robert: Im Anfang war die Idee. In: Reklame-Praxis, 1927, Nr. 10, Bd. 3, S. 298. [DWDS]

Zur allmählichen Auflösung des einheitlichen objektiven Weltbilds, die für den einfachen Mann auf der Straße die Form einer Pluralität einander widersprechender Weltanschauungen annahm und sich den Intellektuellen als die unversöhnliche Pluralität von Denkstilen darbot, kam im öffentlichen Bewußtsein die Tendenz hinzu, die unbewußten situationsgebundenen Motive im Denken der Gruppe zu enthüllen.

Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M. 1985 [zuerst 1929], S. 36. [DWDS]

Sonst eine bloße Idee, dem geschulten Nationalökonomen nur mittels Hilfsvorstellungen erfaßbar, erschien er jetzt in praller Sichtbarkeit: auch der Mann auf der Straße sah ihn mit bloßem Auge.

Feuchtwanger, Lion: Erfolg. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 6. Berlin 1993 [1930], S. 594. [DWDS]

Außerdem kommt es immer darauf an, wem gegenüber man schwierige Ausdrücke gebraucht: mit einem Professor kann man anders reden als mit dem sogenannten Mann auf der Straße.

Weber, Annemarie (Hrsg.): Die Hygiene der Schulbank. Wiesbaden 1955, S. 84. [DWDS]

Der kleine Mann auf der Straße, vor allem aber die große Gemeinde der aktiven Sportler, hat für die Entscheidungen, wie sie in Bonn getroffen wurden, kein Verständnis.

Neues Deutschland, 23. 8. 1957, S. 8. [DWDS]

Und als die Franzosen den Wagen [Citroën 2CV] in Deutschland populär machen wollten, verfielen sie in Unkenntnis der deutschen Mentalität auf den Kosenamen »Mon p’tit« (Mein Kleiner) und schossen damit meilenweit daneben. Der Mann auf der Straße taufte das Ding kurzerhand »Ente«.

Hars, Wolfgang: Nichts ist unmöglich! Lexikon der Werbesprüche. München 2001 [1999], S. 124. [DWDS]