Wortgeschichte
Zwischen gutmütig und bösartig
Das Adjektiv spießbürgerlich tritt um 1800 auf (1803) und ist damit rund 150 Jahre später überliefert als seine Ableitungsbasis SpießbürgerWGd. Es erscheint zunächst vor allem in der Bedeutung einfältig, provinziell
(1803, 1810, 1830, 1871) und schließt damit an eine entsprechende Bedeutungsposition des Substantivs an. Es kann aber auch im Zusammenhang mit Adjektiven wie altfränkisch oder ehrlich gebraucht werden (1866, 1809), so dass das abwertende Moment in den Hintergrund tritt. Personen, die als spießbürgerlich bezeichnet werden, können in ihrer Provinzialität auch sympathisch sein. Ab den 1830er Jahren finden sich vermehrt Charakterisierungen, die das Kleinliche und Engstirnige betonen und die somit sehr deutlich als abwertend zu gelten haben (1831, 1840, 1842, 1854). Auch die Provinzialität und Rückständigkeit kann als dezidiert negative Eigenschaft thematisiert werden (etwa im Beleg 1855). Charakterisierungen mit besonders negativem Einschlag treten etwa in der revolutionären Publizistik um 1848 auf, in der von spießbürgerlicher Wut oder spießbürgerlicher Rachgier die Rede ist, die sich auch in Brutalität entladen kann (1848a, 1848b).
Bedeutungsverschlechterung und Konkurrenz durch spießig
Im 20. Jahrhundert geht die Assoziation von Einfalt
und sympathischer Solidität
, die im Wortgebrauch zumal des frühen 19. Jahrhunderts noch gelegentlich anzutreffen war, vollends verloren. Stattdessen überwiegen die negativen Zuschreibungen engherzig
, provinziell
und emotional verkümmert
(vgl. unter zahlreichen anderen Belegen 1907, 1932, 1956).
Seit dem beginnenden 20. Jahrhundert erhält spießbürgerlich Konkurrenz durch das gleichbedeutende spießig, einer Ableitung aus SpießerWGd (1910, durch Anfügung von ig direkt an den Stamm, unter Aussparung des -er-). Daneben existierte seit dem 17. Jahrhundert ein Adjektiv spießig spitz
, das freilich von Spieß Spitze
abgeleitet ist und zumindest auf die Bedeutung der um 1900 aufkommenden Bildung keinen Einfluss ausgeübt haben dürfte, möglicherweise aber die Form erklärt (zur Ableitungsgrundlage dieses Adjektivs s. auch SpießerWGd). Spießig entspricht semantisch weitgehend der Langform spießbürgerlich. Was das Verhältnis der beiden Adjektive zueinander angeht, so ist aber in jedem Fall festzustellen, dass spießig das ältere und etwas schriftsprachlichere spießbürgerlich stark zurückgedrängt hat (s. Abb. 1).
Jüngere Entwicklungen: spießig und uncool
Offenbar hat spießig aber auch eine Lesart ausgebildet, die für spießbürgerlich kaum zu belegen ist. So tritt es in jüngerer Zeit als Gegensatz zu unkonventionell sowie als Entsprechung von traditionell auf (2004, 2017; vgl. auch konventionellWGd). Wer spießig in diesem Sinne ist, der scheut das Risiko, klammert sich an Bewährtes und muss damit rechnen, als uncool zu gelten (1983, 1995, 2014).
Der spießerhafte Klassenfeind
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1918) tritt mit spießerhaft ein neu gebildetes und weitgehend synonymes Adjektiv neben das bereits etablierte spießbürgerlich und spießig. Spießerhaft bedeutet in der Art eines Spießers
(so wie z. B. katzenhaft in der Art einer Katze
bedeutet) und ist damit wesentlich deutlicher auf das Substantiv bezogen als die beiden älteren Bildungen. Die drei semantisch und formal eng übereinstimmenden Adjektive bilden damit eine paronymische Gruppe.
Das Adjektiv spießerhaft ist in der Presse der DDR auffällig stark vertreten (vgl. 1961). Hier dient es vor allem dazu, das Feindbild des kleinbürgerlichen
Klassenfeindes zu zeichnen und vermeintliche oder reale Abweichung zu diskreditieren (1952, 1958, 1975). Eine vergleichbare Rolle nehmen hier allerdings auch die Adjektive spießbürgerlich und spießig ein (1973, 1985). Das durch die Stigmawörter SpießerWGd bzw. SpießbürgerWGd gezeichnete Feindbild ist offenbar von so hoher ideologischer Relevanz, dass auch bei den adjektivischen Ausdrücken ein gewisser Variationsbedarf besteht.
Belegauswahl
Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig/Leipzig 1803, S. 117. (deutschestextarchiv.de)Der Eingang des Gemeinehauses ist von Franzosen besetzt, und die Bürgerwache steht sehr demüthig in einem sehr spieſsbürgerlichen Aufzug daneben.
Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Zweiter Theil. Berlin 1809, S. 75. (deutschestextarchiv.de)Eben so waren […] die Ideen der Freiheit, des Menſchenrechtes und der Volks-Suveraͤnetaͤt bei der [sic] Beſſeren von der Parthei des Neuen nichts als geiſtige Getraͤnke, worin ſie ſich zu ihrem Angriff Muth tranken; bei den Schlechteren, Kaͤlteren, ein Theater-Coſtuͤme, das ſie zu ſeiner Zeit abzulegen und zu vertauſchen wußten. Wir Deutſchen nehmen ſo etwas herzlicher und ehrlicher, und legen unſre ſpießbuͤrgerliche Ernſthaftigkeit, Moralitaͤt und bonam fidem den Weltbegebenheiten unter, wo ſie durchaus nicht hin gehoͤren. —
Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck 1810, S. 342. (deutschestextarchiv.de)Wir Neudeutſchen Völklein feierten ehmahls Dorf- und Stadtfeſte. Das ſchien kleinlich und ſpießbürgerlich, wider guten Ton und Welt. Da ließen wir die altfränkiſchen Dinger eingehn, um weltbürgerliche Knechte zu werden.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch aus England, Wales, Irland, und Frankreich, geschrieben in den Jahren 1828 und 1829. Erster Theil. München 1830, S. 198. (deutschestextarchiv.de)Lachen muß ich immer über die Engländer, die dieſen ihren zweiten Dichter [Byron] […](denn nach Shakespeare gebührt gewiß ihm die Palme) ſo jämmerlich ſpießbürgerlich beurtheilen, weil er ihre Pedanterie verſpottete, ſich ihren Krähwinkelſitten nicht fügen, ihren kalten Aberglauben nicht theilen wollte, ihre Nüchternheit ihm ekelhaft war, und er ſich über ihren Hochmuth und ihre Heuchelei beklagte.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg 1831, S. 22. (deutschestextarchiv.de)Um gegen die katholiſchen Pfaffen zu ſchreiben, muß man auch ihre Geſichter kennen. Die Originalgeſichter ſieht man aber nur in Italien. Die deutſchen katholiſchen Prieſter und Moͤnche ſind bloß ſchlechte Nachahmungen, oft ſogar Parodien der italieniſchen; eine Vergleichung derſelben wuͤrde eben ſo ausfallen, als wenn man roͤmiſche oder florentiniſche Heiligenbilder vergleichen wollte mit jenen heuſchrecklichen, frommen Fratzen, die etwa dem ſpießbuͤrgerlichen Pinſel eines nuͤrrenberger Stadtmalers[…], oder gar der lieben Einfalt eines Gemuͤthsbefliſſenen aus der langhaarig kriſtlich neudeutſchen Schule, ihr trauriges Daſeyn verdanken.
Allgemeine Zeitung, 7. 6. 1840, Nr. 159, S. 1265. (deutschestextarchiv.de)Das Ausland sagt uns: Ihr seyd unpraktische Ideologen, zu wenig zugekehrt der äußern Welt, gelehrte Kathedermänner, oft voll spießbürgerlicher Pedanterei, allzu empfänglich für jed weden fremden Einfluß, bewundernd was euch von außen gegeben wird, und unsicher in dem, was euch geistig und gemüthlich zu eigenst gehört, weil es nicht getragen wird von der stärkenden Kraft eines einigen Nationalgeistes.
Die Grenzboten 2/2 (1842). [DTA]Auf der andern Seite ließ es aber auch das Comite an Aufmerksamkeit mangeln und überhaupt ist Salzburg zu sehr vom spießbürgerlichen Kleingeist beherrscht, um sich in dem genannten Fall mit all jener Zuvorkommlichkeit und urbaren Politesse benehmen zu können, die man an andern Orten bei dergleichen Gelegenheiten gefunden hat.
Neue Rheinische Zeitung (Beilage), 17. Juni 1848, Nr. 17, o. S. (deutschestextarchiv.de)Noch sechs bis acht Schüsse, und wieder fielen neue Opfer spießbürgerlicher Wuth.
Neue Rheinische Zeitung (Beilage), 3. Januar 1849, Nr. 185, S. 1001. (deutschestextarchiv.de)Der plötzliche Krakehl zwischen Bonaparte und Minister Malleville, der sogar sein Portefeuille ablegt, rührt allerdings einestheils von dem Bestehn des Präsidenten auf Generalamnestie her, wogegen das volksfeindliche Ministerium wüthend opponirt, und sogar an die spießbürgerliche Rachgier in der Brust der im Juni etwas unsanft aufgerüttelten Philister appellirt.
Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Hrsg. von Otto Müller. Frankfurt a. M. 1854, S. 312. (deutschestextarchiv.de)Vom Hofe selbst schreibe ich Ihnen nicht, Sie kennen denselben besser als ich, auch bin ich, Gott sei Dank, nicht angesteckt von der klein- und spießbürgerlichen Klatschsucht, die sich darin gefällt, die Blätter ihrer Skandalchroniken mit Schattenseiten aus dem Leben berühmter Männer anzufüllen.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel 1855, S. 635, Anmerkung b. (deutschestextarchiv.de)der Leichnam Christi auf dem Schooss seiner Mutter, von den Angehörigen beweint; theilweise eine wahre Caricatur des Schmerzes, in unwürdigen spiessbürgerlichen Figuren und dabei doch nicht ohne wahre realistische Gestaltungskraft; der magere Leichnam ist gar nicht gemein.
Die Grenzboten 25/3/2 (1866). [DTA]Trotz der Versorgung ferner Zonen war indessen der Zuschnitt des Geschäftslebens im Wupperthale vor der Franzosenzeit durchaus nicht großartig und weltmäßig, sondern spießbürgerlich ehrbar und beschränkt.
Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Erinnerungen. Hrsg. von Arnold Wellmer. Berlin 1871, S. 388. (deutschestextarchiv.de)Noch immer bedauerte er fast ernsthaft, daß am Ende seiner Studentenzeit der tolle Plan: mit Wackenroder und Burgsdorff in das romantische Land Italia zu entfliehen, dort ein genial poetisches, abenteuerliches Leben zu führen und nur als Berühmtheiten nach dem spießbürgerlichen Deutschland zurückzukehren, nicht zur Ausführung kommen konnte.
Meysenbug, Malwida von: Unerfüllt. In: Deutsche Literatur von Frauen, Berlin: Directmedia Publ. 2001 [1907], S. 50190. [DWDS]Die spießbürgerliche Eleganz in der Provinz ist doch nicht zu ertragen.
Die Grenzboten 69/1 (1910). [DTA]So spießig, wie die eingehende Zeitungserörterung über die Frage, ob der Reichskanzler oder das Reichstagspräsidium in Uniform oder im bürgerlichen Gewände, als welches man merkwürdiger Weise den Frack bezeichnet, vor dem Kaiser zu erscheinen hat?
Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. In: Weber, Marianne (Hg.) Gesammelte Politische Schriften, München: Drei Masken Verl. 1921 [1918], S. 158. [DWDS]Welch spießerhaftes Literatengeschwätz ist doch diese recht stark nach dem Ressentiment des »Untertanen« schmeckende, abgegriffene Redensart! -
Gleichen-Russwurm, Alexander von: Der gute Ton. In: Zillig, Werner (Hg.): Gutes Benehmen, Berlin: Directmedia Publ. 2004 [1932], S. 6881. [DWDS]Es ist durchaus spießbürgerlich, engherzig und lächerlich eines Sitzplatzes bei Tisch wegen beleidigt zu sein.
N. N.: Innenpolitik. Wehrwesen. Verfassung. Justizwesen. Landwirtschaft. In: Archiv der Gegenwart, Bd. 22, 14. 7. 1952, S. 3559 [ff.]. Zit. n. CD-ROM-Ausgabe 2001 [zuerst 1952]. [DWDS]Gleichzeitig müssen wir jedes spießerhafte Verhalten gegenüber der Aufstellung bewaffneter Kräfte entschieden zurückweisen und überwinden.
Eschenburg, Theodor: Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart: Schwab 1957 [1956], S. 184. [DWDS]Gewiß hat das Verfahren der freien Auslese der Gesetzgeber – und mittelbar der Regierungskandidaten – große Mängel; spießbürgerliche und krähenwinkelhafte, einseitig interessenorientierte Methoden können angewandt und ebensolche Maßstäbe angelegt werden.
Neues Deutschland, 8. 7. 1958. [DWDS]Das Vorhandensein einer kleinbürgerlichen, spießerhaften Gruppe im Büro der Bezirksleitung wurde verurteilt.
Neues Deutschland, 3. 12. 1961. [DWDS]Gute und Interessante Ansätze fallen schnell wieder in sich zusammen, und immer wieder machen sich kleinbürgerliche Einflüsse, sei es dekadenter, sei es spießerhafter oder sektiererischer Art bemerkbar.
Neues Deutschland, 16. 3. 1973. [DWDS]Der Marxismus-Leninismus lehnt entschieden auch die falsche Weisheit „Armut ist ein Wohl„ und das spießbürgerliche “Ideal" des satten Wohlstandes mitsamt der spießerischen politischen Passivität ab.
Neues Deutschland, 6. 9. 1975. [DWDS]Berechtigte Konsumwünsche der Werktätigen werden wir also weder geringschätzen noch mit spießerhaften oder anderen dem Sozialismus fremden Ideologien gleichsetzen.
Neues Deutschland, 14. 5. 1985. [DWDS]Andreas Turowskls Standardnummer „Transit" führt auch hier wieder wirkungsvoll spießigen Antikommunismus ad absurdum.
Die Zeit, 3. 3. 1995, Nr. 10. [DWDS] (zeit.de)Die Skiwelt gilt den meist jungen Snowboardern – acht von zehn sind zwischen 12 und 25 Jahren alt – als „spießig, altmodisch und uncool“, schlicht als „von gestern“.
Düffel, John von: Houwelandt, Köln 2004, S. 201. [DWDS]Was daran so sympathisch unkonventionell und nicht »spießig« sein sollte, das würde ihm Ricarda dann erklären müssen, darauf war er gespannt.
Die Zeit, 14. 5. 2014 (online). [DWDS] (zeit.de)Für mich steht spießig für eine Form von Ankommen und Sicherheit.
Die Zeit, 24. 10. 2017, Nr. 43. [DWDS] (zeit.de)Die Kinder der Kommunegründer haben gemeinsam, dass sie traditioneller leben als ihre Eltern, man könnte auch sagen, sie sind spießig geworden.