Wortgeschichte
Spießer: lexikalische Vielfalt
Die ältere Wortgeschichte von Spießer ist zunächst durch die Koexistenz von zwei gleichlautenden, in Bezug auf Bedeutung und Herkunft jedoch strikt zu trennenden Varianten gekennzeichnet: Zum einen gibt es Spießer als Bezeichnung für ein Rotwild mit noch jungem, unverzweigtem Geweih
(z. B. 1724). Hier liegt eine Ableitung von Spieß1 Geweihende eines Hirsches
vor, einem Wort, das etymologisch mit spitz zusammenhängt. Daneben steht Spießer mit einer Lanze ausgerüsteter Soldat
(z. B. 1605). Dieser Bildung liegt ein anderes Wort zugrunde, nämlich Spieß2. Dieses geht nicht auf das Adjektiv spitz , sondern auf das mittelhochdeutsche Wort spiez Bratspieß
zurück (zu den komplexen etymologischen Verhältnissen s. Pfeifer unter Spieß1DWDS und 25Kluge, 867).
Die Personenbezeichnung Spießer engstirniger Mensch
, die Mitte des 19. Jahrhunderts (1848) erstmals auftritt, ist gegenüber den eben genannten Bildungen vergleichsweise jung. Sie setzt allerdings wohl weder Spießer junges Rotwild
noch Spießer Lanzenträger
fort, sondern ist aller Wahrscheinlichkeit nach als Kürzung aus SpießbürgerWGd zu erklären, das bereits seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist. Nicht auszuschließen ist freilich, dass die bereits bestehenden Homonyme Spießer1 junges Rotwild
und Spießer2 Lanzenträger
die Bildung der Kurzform begünstigt haben. Eine Homonymenflucht liegt hier in jedem Fall nicht vor.
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Den ältesten bisher greifbaren Beleg für Spießer als abwertend-spöttische Personenbezeichnung bietet ein Text von Jean Paul (1827, hier: philosophischer Spießer). Der Wortgebrauch ist hier aber deutlich erkennbar als Metapher zu Spießer1 junges Rotwild
zu beschreiben (ein solcher philosophischer Spießer […] ſpießt Groß und Klein, wie auch der Spießer im Walde […] gefährlicher verwundet, als ein altes Thier von Sechzehnender
). Eine von dieser offenbar isoliert bleibenden Übertragung ausgehende wortgeschichtliche Traditionslinie zu Spießer engstirnige Person
ist nicht erkennbar.
Der gutmütige Durchschnittsmensch
Vergleicht man die älteren Belege Spießer mit denjenigen für die Langform SpießbürgerWGd, so treten – wenn auch minimale – Unterschiede im Gebrauch zutage (die angesichts der immer noch spärlichen Überlieferung für das 19. Jahrhundert nicht überinterpretiert werden sollten). Im Gegensatz zu dem oft abwertend verwendeten Spießbürger tendiert die Kurzform Spießer nach Ausweis der vorhandenen Belege aus dieser Zeit zu einer neutral bis positiv gefärbten Perspektive: Spießer werden hier eher als gutmütige Gestalten beschrieben (1856) oder humoristisch als etwas einfältige Durchschnittsbürger dargestellt (1876, 1898).
Spießer sind immer die anderen
Im Laufe des 20. Jahrhunderts, in dem auch die Bezeugungshäufigkeit des Wortes stark zunimmt, überwiegt dann der negative Gebrauch. Spießer wie Spießbürger sind grundsätzlich dumm, einfältig, selbstbezogen und engherzig (1928, 1933, 1935, 1939, 1954, 1985). Diese negative Eigenschaftszuschreibung nutzen Autoren auch gerne dazu, die eigene Überlegenheit, ihr angebliches Unverstandensein durch die breite Masse herauszustellen (1918). Zur Bezeichnung des quasi unausrottbaren Sozialtypus dient auch die Verbindung der ewige Spießer, überwiegend wohl im Anschluss an den 1930 erschienenen gleichnamigen Roman von Ödön von Horváth (zur Verbindung z. B. der Beleg 1989, vor Horváths Roman vgl. allerdings die Belege 1926 und 1929).
Der Spießer-Vorwurf entwickelt sich auch zum Instrument in den publizistischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik. So wird auf der linken Seite des politischen Spektrums die latente Brutalität des Spießers hervorgehoben (etwa bei Kurt Tucholsky 1920 und 1924), während die Publizistik der Rechtsextremen die Naivität der deutschen Spießer anprangert, die sich vom Feind des Volkes betrügen ließen (1929, 1932, 1933). Spießer ist hier zum Stigmawort in den politischen Auseinandersetzungen geworden, und in den je nach politischem Standpunkt unterschiedlichen Negativzuschreibungen lassen sich auch Züge einer sog. Bedeutungskonkurrenz erkennen.
Das Feindbild des Spießers ist dann auch in der Zeit um 1970 virulent. Hier wird auf Kosten eines (imaginierten) Durchschnittsbürgers die eigene Fortschrittlichkeit und Unangepasstheit vorgeführt (1968a, 1968b, 1969). Als Gegenreaktion erfährt Spießer dann ab den 1980er und 1990er Jahre eine positive Umdeutung. In dieser besonderen Form der Bedeutungsverbesserung soll die bewusste Aneignung des negativ besetzten Worts Spießer originell und provokant wirken (z. B. 2002; zum neuen Spießer
vgl. auch Kajetzke 2010, 376–378).
Literatur
Kajetzke 2010 Kajetzke, Laura: Der Spießer. In: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten: Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin 2010, S. 366–380.
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Spießer.