Wortgeschichte
Bourgeois und citoyen
Die substantivische Personenbezeichnung Bourgeois Angehöriger der besitzenden Schicht innerhalb einer Gesellschaft
und das gleichlautende Adjektiv bourgeois treten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in deutschen Texten in Erscheinung. Beide Wörter referieren auf französische Verhältnisse, sind also zunächst als Exotismen anzusehen. Dabei wird einerseits der Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum betont (1773), andererseits auch der Gegensatz zwischen bourgeois und citoyen thematisiert, der für das Französische bis heute prägend ist (1784, 1840): citoyen steht dabei grundsätzlich für den Staatsbürger, während bourgeois den wohlhabenden, besitzenden Bürger
meint. Bourgeois ist dabei schon im Französischen des 19. Jahrhunderts negativ aufgeladen; bereits bei dem Sozialphilosophen Saint Simon wird es als Gegensatz zu prolétaire verwendet (TLFi unter bourgeois bzw. citoyen, 25Kluge 144). Damit sind bereits wesentliche Züge der Bedeutungsgeschichte des Wortes in der Gebersprache vorgeprägt.
Ein Stigmawort des Klassenkampfs
Besondere Bedeutung kommt dabei den Autoren der sozialistischen Bewegung, allen voran Karl Marx und Friedrich Engels, zu. Bereits im Manifest der Kommunistischen Partei
wird die (von Saint Simon begründete) Opposition von Bourgeois und ProletarierWGd etabliert (1848a, vgl. noch 1890).1) Die Rollen sind dabei klar verteilt: Der Bourgeois als Angehöriger der herrschenden Klasse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft
ist der Ausbeuter, der Proletarier bzw. Arbeiter der Ausgebeutete (1848b, 1848c). In Texten, die dem Sozialismus zuzurechnen sind, erscheint der Bourgeois indes nicht allein als Ausbeuter, ihm wird auch eine grundsätzliche moralische Verkommenheit unterstellt, so etwa die Neigung zu Prostitution und Ehebruch oder Mordlust (1848d, 1848e). Außerdem ist er feige und niederträchtig (1848f) und auch ohne Kunstgeschmack (1850). Borniert und philisterhaft ist er natürlich ebenfalls (1895). Bourgeois ist damit ganz klar zu einem Stigmawort geworden, mit dem der politische Gegner bezeichnet und auch geschmäht werden kann. Dies funktioniert nicht allein um die Mitte des 19. Jahrhunderts, auch in der Zeit der 1968er-Bewegung tritt dieser bis ins Unmenschliche verzerrte Typus des Bourgeois wieder in den Vordergrund (1972).
Das Wort ist dabei durchaus nicht mit Bürger gleichzusetzen; der Bourgeois entspricht eher dem GroßbürgerWGd oder dem Kapitalisten, und seine Prototypen sind die Herren Fabrikanten (1894). Das Wort Bourgeois erfüllt im Feld der Bezeichnungen für den mittleren
Stand somit eine wichtige differenzierende Funktion, indem es garantiert, dass Bürger – das ja immerhin auch Staatsbürger
bedeutet – als nicht-wertender Ausdruck weiterverwendet werden kann. Damit wird in gewisser Weise auch die im Französischen vorhandene Unterscheidung von citoyen und bourgeoisfrz., von gutem
und schlechtem
Standesvertreter, nachgebildet.
Die Abwertung verfestigt sich
Die negativen lexikalischen Zuschreibungen, die vorwiegend aus der Zeit der 1848/49-Revolution stammen, sind in der Folgezeit zu festen Komponenten der Wortbedeutung geworden. Dies ist auch bei Autoren festzustellen, die nicht oder nicht im engeren Sinne eine linke
Position vertreten, so beispielsweise sehr prononciert beim späten Fontane (vgl. 1882, 1898, 1899) oder auch in der nationalsozialistischen Presse (1939). Bourgeois kann dabei durchaus direkt als Beschimpfung verwendet werden (1896, 1906). Zumal jünger ist es indes auch stark bildungssprachlich: Wer es verwendet, stellt eine gewisse Belesenheit unter Beweis.
Der Bourgeois als Spießer
Teilweise lässt sich ab 1900 aber insofern eine Loslösung von ständischen Zuordnungen erkennen, als Bourgeois zu einer Entsprechung des SpießbürgersWGd wird, dem es vor allem um seine eigene Ruhe und Bequemlichkeit zu tun ist und der als konservativ, behäbig und verklemmt charakterisiert wird (1918, 1927, 1922, 1954, 2016a). Damit bildet sich ansatzweise eine weitere Bedeutung des Wortes heraus: saturierte (wohlhabende) Person, Spießer
.
Mehr Abstraktum als Kollektivum: die Bourgeoisie
Stehen zunächst Bourgeoise und Adel als Oppositionspaar einander gegenüber (1839), wird das Wort dann seit den 1840er Jahren zunehmend in einen Gegensatz zum ProletariatWGd gebracht. In der marxistischen Ideologie bezeichnet das Wort dabei freilich weniger die Gemeinschaft der reichen, besitzenden Bürger als Personen als vielmehr eine abstrakte ökonomische und politische Macht, die jedes menschlichen Zuges entbehrt (1848g, vgl. auch 1912, 1923).
Das Adjektiv
Das Adjektiv bourgeois ist zwar insgesamt deutlich dichter bezeugt als das gleichlautende Substantiv, es geht gleichwohl ähnliche wortgeschichtliche Wege. Zunächst tritt es in der Beschreibung französischer Verhältnisse auf (1773, 1848h); dann wird es auch als ideologisch aufgeladenes Stigmawort des Sozialismus verwendet (1907, 1987). In seiner Grundbedeutung typisch für die Bourgeoisie
kann es allerdings auch eher beschreibend gebraucht werden, etwa wenn Personen oder eine Lebensweise als wohlhabend, gediegen und großbürgerlich gekennzeichnet werden sollen (2005, 2016b).
Anmerkungen
1) Zu diesem Gegensatz und seiner Vorgeschichte im Denken von Karl Marx s. auch GG, 1, 718; zum Gegensatz Bourgeoisie/ProletariatWGd vgl. ferner GG, 1, 721.
Literatur
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)