Wortgeschichte
Kolonisation: Erste Bezeugungen
Das Substantiv Kolonisation ist im Deutschen seit Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt (1797a, 1809a). Seither hat das Wort die Bedeutung Besiedelung und Bestellung bisher unerschlossenen Landes
(1809b, 2017), wobei die Grenzen zu Prozess der Landnahme, in der Regel verbunden mit politischer und wirtschaftlicher Unterwerfung der Bewohner
sicher fließend sind. Kolonisation wird dann zunächst – wie seine Ableitungsgrundlage kolonisieren auch – auffallend häufig auf die Antike bezogen (1811, 1824a, 1875a). Daneben kann das Wort zu dieser Zeit wohl noch als Synonym für Kolonie verwendet werden (1809c); diese Verwendung ist heute unüblich.
Die Ableitungsgrundlage kolonisieren
Kolonisation ist (wie alle Aktionsnomen auf -ation) als Ableitung von einem Verb auf -ieren, hier von kolonisieren zu beschreiben. Das Verb begegnet seit Ende des 18. Jahrhunderts und damit in etwa zeitgleich zu Kolonisation in deutschsprachigen Texten (1797b), zunächst allerdings nur sehr sporadisch. In frühen Belegen scheint die Bedeutung des Verbs relativ breit zu sein: Neben Verwendungen in Bezug auf Siedlungsvorgänge in der antiken Welt, vor allem in Griechenland und im Mittelmeerbereich, deren Bedeutung sich mit besiedeln, eine Siedlung gründen
angeben lässt (1824b), und Verwendungen in der Bedeutung (unfruchtbares Land) urbar machen, erschließen
(1832; vgl. dazu GWB, 5, 513) treten solche, in denen kolonisieren die Bedeutung eine Kolonne bilden
hat (1797b). Die wohl im Verlauf des 19. Jahrhundert entstehende Bedeutung eine Kolonie gründen, als Kolonie erobern
bezieht sich auf überseeische Gebiete und umfasst machtpolitische Konnotationen (1840a, vgl. auch Pfeifer unter kolonisierenDWDS). Diese Bedeutung wird vermutlich nach dem englischen colonize gebildet (vgl. 1DFWB, 1 , 354), das seinerseits seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist, von colony bzw. mittelenglisch colonie abgeleitet wird und – teilweise wohl über das Altfranzösische – etymologisch auf die lateinischen Wörtercolōnia und colōnus zurückgeführt werden kann (vgl. 3OED unter colonize, v.). Wenn indes ab 1840 kolonisieren zunehmend auch für die Beschreibung der europäischen Expansion verwendet wird, so schlägt diese Differenz zunächst nur bedingt auf den Wortgebrauch durch (1840b, 1847). Das Modell der antiken Kolonisation, das stark von dem Konzept des Besiedelns, Urbarmachens und der Gründung bestimmt ist und in dem das besiedelte Land als geradezu unbewohnt erscheint, wird somit offenbar direkt auf die zeitgenössische Landnahme in Übersee übertragen.
Weitere semantische Entwicklung von Kolonisation
Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sind zwei semantische Entwicklungen zu beobachten: Zum einen bildet sich nun auch für das Substantiv die Bedeutung Prozess der Landnahme, in der Regel verbunden mit politischer und wirtschaftlicher Unterwerfung der Bewohner
aus (1840c, 1984). Daneben begegnen nun vermehrt solche Verwendungen, die auf die Besiedlung und Urbarmachung bislang unerschlossenen Landes innerhalb des eigenen staatlichen Territoriums abzielen (1848, 1894). Von hierher sind die feststehenden Verbindungen innere und äußere Kolonisation zu verstehen (1900, 1907).
Die feste Verbindung innere Kolonisation entsteht im Kontext der Diskussionen um die zunehmende Landflucht, die mit der gezielten Ansiedelung von Bauern eingedämmt werden soll. Nicht erst ab, aber insbesondere in den 1880er Jahren bezeichnet innere Kolonisation dann ganz konkret preußische Bemühungen, die eine Ansiedlung von Bauern in Posen und Westpreußen zum Ziel haben. Die Idee einer inneren Kolonisation
wird bis Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter verschiedenen Vorzeichen weiterverfolgt; 1933 wird die Wendung allerdings durch Neubildung deutschen Bauerntums ersetzt (vgl. das Gesetz über die Neubildung deutschen Bauerntums vom 14. Juli 1933: Reichsgesetzblatt 1933). Nach Ende des zweiten Weltkriegs lebt die Verbindung innere Kolonisation zwar fort (vgl. etwa die Zeitschrift Innere Kolonisation, die noch bis in die 1980er Jahre herausgegeben wird), verliert aber insgesamt an Relevanz.
Die Biologie, in die KolonieWGd Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang findet, greift auch Kolonisation, hier in der Bedeutung der Entstehung einer Kolonie von Pflanzen oder Tieren
, auf (1890).
Kolonisation – Kolonialismus
Kolonialismus und Kolonisation unterscheiden sich trotz der ähnlichen Lautung nicht nur hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht unwesentlich. Während Kolonisation seit etwa 1800 bezeugt ist und vor allem den Prozess der Landnahme (vgl. Osterhammel 2009, 8), der Besiedlung und oft auch der landwirtschaftlichen Bestellung bisher brach liegenden Landes außerhalb des eigenen staatlichen Territoriums betont, entsteht das Wort KolonialismusWGd als Bezeichnung für ein Herrschaftsverhältnis bzw. ein System der Unterdrückung, Ausbeutung und Abwertung anderer Völker (1970) erst Mitte des 20. Jahrhunderts (1950) – und damit nicht nur deutlich später als der bezeichnete Sachverhalt, sondern auch in auffallender Nähe zur im 20. Jahrhundert einsetzenden Dekolonisation sowie zur Ausbildung der Postcolonial Studies.
Die semantischen Übergänge von Kolonisation und Kolonialismus können fließend sein, kann der Prozess der Landnahme doch gerade mit dem Bestreben der politischen und wirtschaftlichen Unterwerfung eines anderen gesellschaftlichen Kollektivs verbunden sein (1907). In diesem Verständnis ist Kolonisation zugleich mit sendungsideologischen Vorstellungen der Ausbreitung der eigenen, als höherentwickelt wahrgenommenen Kultur verbunden (1875b). Kolonisation kann aber durchaus auch auf die Besiedelung allein bezogen sein, wie etwa im Auswanderungsdiskurs um Brasilien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1908).
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
GWB Goethe-Wörterbuch. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [bis Bd. 3, Lfg. 4. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin/Akademie der Wissenschaften der DDR], der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 1 ff. Stuttgart 1978 ff. (woerterbuchnetz.de)
Innere Kolonisation 1956–1972 Innere Kolonisation. Hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung Innerer Kolonisation. Berlin/Bonn 1956–1972.
Innere Kolonisation 1972–1981 Innere Kolonisation, Land und Gemeinde. Hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung der Inneren Kolonisation, GFK/Bundesverband der Gemeinnützigen Landgesellschaften, BLG/Deutsche Bauernsiedlung/Deutsche Gesellschaft für Landentwicklung, DGL. Bonn 1972–1981.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Osterhammel 2009 Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. 6., durchgesehene Aufl. München 2009.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Reichsgesetzblatt 1933 Gesetz über die Neubildung deutschen Bauerntums. Vom 14. Juli 1933. In: Reichgesetzblatt 1933, I, S. 517–518.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Kolonisation, kolonisieren.