Wortgeschichte
Postkolonial: Entstehung
Während KolonieWGd, das etymologisch auf das lateinische colōnia zurückgeht, ein sehr altes Wort ist und kolonial mindestens auf das 19. Jahrhundert zurückgeführt werden kann (1896), gehört postkolonial zu den relativ jungen Wortbildungen innerhalb der betreffenden Wortfamilie. Es entsteht ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts (1964) und damit zeitlich in etwa parallel zu dem nunmehr verstärkt einsetzenden weltweiten Prozess der Dekolonisation einerseits und der Entstehung der Postcolonial Studies und ihrer Theoriebildung andererseits. Insofern steht postkolonial zugleich für eine wesentliche Verschiebung innerhalb der Wahrnehmung und Beurteilung des KolonialismusWGd im Verlauf des 20. Jahrhunderts, der nunmehr mehrheitlich abgelehnt und in der historischen Perspektive ebenso wie mit Blick auf die Nachwirkungen bis in die Gegenwart kritisch aufgearbeitet wird.
Postkolonial als vieldeutiges Wort
Im englischsprachigen Raum begegnet das Adjektiv post-colonial bereits Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. 3OED unter post-colonial, adj.) und meint hier wie auch im Deutschen zunächst lediglich nachkolonial
in einem rein zeitlichen Sinn (1968, 1975). Diese sehr weit gefasste Bedeutung ist Teil aller weiteren Bedeutungen. In Zeiten, in denen die Dekolonisierung noch nicht abgeschlossen ist, beinhaltet die Bedeutung nachkolonial
allerdings noch keinesfalls eine dem Kolonialismus gegenüber kritische Grundhaltung (1975).
Postkolonial im engeren Sinn meint dann kolonialkritisch bzw. antikolonial
in verschiedener Hinsicht. Ganz allgemein kann sich postkolonial in dieser Bedeutung zunächst auf einen politischen, ökonomischen und kulturellen Zustand der Welt beziehen, der bis heute von den Langzeitfolgen des Kolonialismus geprägt ist (1976, 1979). Diese Bedeutung hängt implizit mit jener zusammen, in der postkolonial eine Haltung, eine den Kolonialismus und seine Langzeitfolgen bis in die Gegenwart kritisch beobachtende und reflektierende Position meint (1996). Auch wenn die Wortbildung postkolonial vergleichsweise jung ist, gilt es gerade in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass kolonialkritische bzw. antikoloniale Haltungen den Kolonialismus natürlich immer schon begleitet haben und insofern theoriegeschichtlich zu den Wurzeln der Postcolonial Studies gehören. In diesem Kontext ist postkolonial dann gleichbedeutend mit die postkoloniale Theoriebildung betreffend bzw. im Sinne der Postcolonial Studies geschult
(1996, 2000). Die engste und wohl am wenigsten verbreitete Bedeutung von postkolonial bezieht sich schließlich auf einen – bis heute noch nicht erreichten, aber anzustrebenden – Zustand jenseits des Kolonialismus, also auf einen Zustand, in dem die politische, ökonomische und kulturelle Weltordnung nicht mehr von den Langzeitfolgen des Kolonialismus geprägt ist (vgl. 3Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 542).
Noch jünger als postkolonial ist das Substantiv Postkolonialismus, das seinerseits nachkoloniales Zeitalter
ebenso wie antikoloniale Haltung
und Theoriebildung der Postcolonial Studies
bedeuten kann (1990, 2001a, 2008). Im Englischen bereits seit Mitte der 1950er Jahre belegt (vgl. 3OED unter post-colonialism, n.), begegnet Postkolonialismus im deutschsprachigen Raum erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.
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Die Entstehung ebenso wie die zunehmende Verbreitung der Wörter postkolonial und Postkolonialismus im deutschsprachigen Raum im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auch und gerade im Zusammenhang mit der Ausbildung und Etablierung der Postcolonial Studies zu verstehen. Vor diesem Hintergrund bilden sich Verbindungen wie postkoloniale Debatte (2017a), postkoloniale Kritik und postkoloniale Theorie (2017b) oder postkolonialer Diskurs (2001b) aus. Ihr zentrales Anliegen ist die Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus und Imperialismus der Neuzeit ebenso wie mit deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart.
Zu den Quellen postkolonialer Theoriebildung gehören in historischer Perspektive die Geschichte des europäischen Kolonialismus, die die europäische Expansion immer schon begleitende Kolonialismuskritik sowie der Widerstand der Kolonisierten gegen die Kolonisatoren und, in theoretischer Perspektive, Ansätze des Poststrukturalismus, genauer Diskursanalyse und Dekonstruktion, Psychoanalyse und Marxismus. Erste Ansätze des Postkolonialismus lassen sich bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachten. Wichtige Impulse gehen von den Schriften des afro-karibischen Autors und Psychiaters Frantz Fanon aus, bekannte Vertreter der postkolonialen Theoriebildung sind unter anderem Edward W. Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha.
Auch innerhalb der Postcolonial Studies ist postkolonial – obwohl es für sie namengebend ist – nicht eindeutig besetzt. Entsprechend problematisieren zahlreiche Positionen der postkolonialen Theorie diesen Schlüsselbegriff (vgl. Kerner 2012, 10). Tatsächlich ist es gerade die Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit, die das Wort zu einem durchaus umstrittenen auch innerhalb der Postcolonial Studies selbst und ihrer Theoriebildung haben werden lassen (vgl. 3Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 542).
Literatur
Kerner 2012 Kerner, Ina: Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg 2012.
3Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart 2004.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Belegauswahl
Dove, Karl: Deutsch-Südwest-Afrika: Ergebnisse einer wissenschaftlichen Reise im südlichen Damaralande. In: Dove, Karl: Deutsch-Südwest-Afrika. Gotha, 1896. [DTA]Immer wieder wird den Kennern Südwestafrikas von durchaus kolonial gesinnten Männern entgegengehalten:
„Wenn das Land wirklich so geeignet zur Viehzucht ist, wie ihr behauptet, warum haben sich denn bis auf den heutigen Tag noch keine oder nur ganz vereinzelte Farmer gefunden, die es wirklich allein mit der Viehzucht versuchen wollen?“
Die Zeit, 18. 9. 1964, Nr. 38. [DWDS] (zeit.de)Der Konflikt zwischen Indonesien und Malaysia gehört jedoch in eine so andersartige Kategorie, daß jeglicher Vergleich zu schiefen Ergebnissen führen muß. Die „Konfrontation“ (nehmen wir Sukarno beim liebgewordenen Wort) zwischen Indonesien und dem jungen, jetzt gerade ein Jahr alt gewordenen Staat Malaysia ist ganz und gar ein Phänomen der postkolonialen Epoche.
Die Zeit, 12. 7. 1968, Nr. 28. [DWDS] (zeit.de)Ihr Englisch stammte bereits aus postkolonialen Tagen oder war gar nicht vorhanden.
Die Zeit, 19. 12. 1975, Nr. 52. [DWDS] (zeit.de)Vor 20 Jahren gab es in Indien, Pakistan oder Malaysia kaum einen korrupten Minister. Heute aber sind die Mitglieder der postkolonialen Generation in Amt und Würden – sie erinnern sich nicht mehr an die von England hinterlassenen Grundsätze sauberer Administration. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Hochburg des britischen Imperialismus – in der Kronkolonie Hongkong.
Die Zeit, 5. 3. 1976, Nr. 11. [DWDS] (zeit.de)Und zum Argument, Entwicklungshilfe müsse auch der Sicherung von Rohstoffvorkommen dienen: „…es ist nicht Sache der Entwicklungspolitik, an postkolonialen Abhängigkeitsmustern mitzuwirken.“
Die Zeit, 23. 11. 1979, Nr. 48. [DWDS] (zeit.de)Wenn Afrika einmal beginnen wird, zwei „Trauerarbeiten“ anzugehen, nämlich den Kolonialismus auch als eigene afrikanische Geschichte zu begreifen und sich selbstkritisch mit den eigenen, postkolonialen Verhältnissen auseinanderzusetzen, kann es auch ein interessantes zeitgenössisches Theater geben, das mehr ist als nur ein europäischer Abklatsch.
Die Zeit, 28. 9. 1990, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)Natürlich auch hier gleich die Diskussion über die „Postmoderne“. Könnte die – wie den Postkolonialismus, Postimperialismus, Postkapitalismus, Postsozialismus, vielleicht auch den Postpatriarchalismus – auch eine Postreligiosität beinhalten oder bewirken? Oder ist sie nur die „andere Seite“ der Moderne – also kein „trans“, kein Darüberhinaus, sondern ein Wenden, die Betrachtung von der Rückseite her in Kenntnis der Vorderseite?
Berliner Zeitung, 11. 4. 1996. [DWDS]Mit dem „postkolonialen“ Blick auf außereuropäische Kulturen beschäftigt sich die „Neue Rundschau“ im Schwerpunktteil ihrer neuen Ausgabe: Wie nehmen europäische und nordamerikanische Autoren das Fremde wahr – und wie wirkt umgekehrt die Literatur der vormals Kolonialisierten zurück in die Kultur Europas und Nordamerikas?
Berliner Zeitung, 13. 4. 2000. [DWDS]Die Kulturwissenschaft müsse sich vielmehr jener unüberwindbaren Unübersichtlichkeit widmen, die der Kolonialismus hinterlassen habe. Der gegenwärtig prominenteste Vertreter dieses „postkolonialen“ Denkens ist der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha.
Der Tagesspiegel, 30. 5. 2001. [DWDS]Im ersten Stadium des Postkolonialismus verlieren die von den Kolonialherren hinterlassenen demokratischen Institutionen ihre Bedeutung, es gibt kein Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition mehr, stattdessen, wie in Berlin, eine große Koalition der wichtigsten Stammeshäuptlinge.
Berliner Zeitung, 11. 10. 2001. [DWDS]Da hielt der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha aus Chicago, einer der wohl einflussreichsten Theoretiker im postkolonialen Diskurs, den Berliner Eröffnungsvortrag der Plattform 1 zur „Documenta 11“ – und er war zugleich nicht da.
Neue Zürcher Zeitung, 27. 9. 2008, S. 67. [IDS]Zunächst einmal trennt sie die Theorie des Postkolonialismus von der geschichtlichen Realität: Im kolonialistischen Denken gehe es unter anderem um den Verlust der eigenen Kultur, und dieser erfolge in China unter anderen Vorzeichen als etwa in Indien.
Die Zeit, 11. 9. 2017, Nr. 37. [DWDS] (zeit.de)Im Zuge der postkolonialen Debatte sind diese und ähnliche Fragen in den letzten Jahren wieder aufgeworfen worden.
Die Zeit, 13. 8. 2017, Nr. 33. [DWDS] (zeit.de)Nguyen gelingt die Kunst, politische Thesen in seinem Roman unterzubringen, ohne den süffigen Ton der Erzählung zu beschädigen. Außerhalb des Romans würde man sie wohl der „postkolonialen Kritik“ oder gar „Theorie“ zuordnen.