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Kolonialismus Neokolonialismus

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Während das Zeitalter der europäischen Expansion ab dem 15. Jahrhundert anzusetzen ist, ist das Wort Kolonialismus vergleichsweise jung. Zwar leitet es sich von Kolonie bzw. kolonial und damit von einem Wort ab, das bis auf das Altertum zurückzuführen ist, Kolonialismus bildet sich im Vergleich zu Kolonie jedoch deutlich später und findet erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts weitere Verbreitung. Es ist nicht zu verwechseln mit dem deutlich älteren Wort Kolonisation, das nicht auf das Herrschaftsverhältnis, sondern auf den Prozess der Landnahme abhebt.

Wortgeschichte

Ein alter Sachverhalt, ein junges Wort

Während das Zeitalter der europäischen Expansion und damit der Sachverhalt, den Kolonialismus beschreibt, ab dem 15. Jahrhundert anzusetzen ist, besteht das Wort selbst erst gut 100 Jahre. Es begegnet damit auch wesentlich später als seine Ableitungsgrundlagen KolonieWGd bzw. kolonial. Im Englischen lässt sich colonialism in seiner Bedeutung koloniale Praktiken in der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals nachweisen, und in der Bedeutung, die das koloniale System insgesamt adressiert, wird es ab 1886 greifbar (vgl. 3OED unter colonialism, n.). Im deutschen Sprachraum ist das Wort vereinzelt bereits im 19. Jahrhundert bezeugt (1887; der einzige Beleg in der Digitalen Sammlung Deutscher Kolonialismus datiert auf 1919 und ist hier wohl eine Übertragung aus dem Englischen). Erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, vermutlich vor dem Hintergrund der nun einsetzenden Dekolonisation, erfährt das Wort weitere Verbreitung (der Erstbeleg in den DWDS Referenz- und Zeitungskorpora datiert auf 1950a; vgl. daneben die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Mit Kolonialismus wird insofern quasi retrospektiv auf die Geschichte der europäischen Expansion sowie die damit verbundene politische und/oder ökonomische Herrschaftsausübung in Übersee Bezug genommen (1950b, 1953). Diese Herrschaftsausübung geht in der Regel mit Wahrnehmungsmustern und Sprechweisen einher, in denen indigene Völker nicht als gleichberechtigt wahrgenommen und behandelt werden und die der Selbstprofilierung der Europäer ebenso wie der Rechtfertigung der Herrschaftsausübung dienen (1970).

Kolonialismus ist abzugrenzen von KolonisationWGd, das nicht das Herrschaftsverhältnis als System bezeichnet, sondern den Prozess der Landnahme betont (vgl. Osterhammel 2009, 8; 1847). Zugleich lebt in Kolonisation auch die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen colere bebauen/pflegen/bewirtschaften fort, wenn Kolonisation auf die Erschließung, Besiedelung und Bestellung von vorher unbebautem Land sowohl in Übersee als auch im eigenen Staatsgebiet referiert. Anders als Kolonialismus entsteht das Wort Kolonisation bereits um 1800 (1809).

(Neo-)Kolonialismus und Postkolonialismus

Die Beurteilung des Kolonialismus hängt auf das Engste mit der historischen Entwicklung zusammen. Zwar hat es immer schon kolonialkritische Stimmen gegeben, spätestens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bildet sich aber der PostkolonialismusWGd heraus, der sich mit dem europäischen Kolonialismus und Imperialismus der Neuzeit ebenso wie mit deren Nachwirkungen bis in die jüngste Gegenwart auseinandersetzt. Parallel zur Dekolonisation und der Ausbildung der Postcolonial Studies findet eine Umwertung des Kolonialismus statt: Zwar hat es bereits in der Hochphase der europäischen Expansion immer auch kolonialkritische Stimmen gegeben, seine dominant negative Konnotation – wie sie etwa im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache im Eintrag von 1969 explizit markiert ist – erhält Kolonialismus aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. WDG, 3, 2148DWDS; vgl. daneben auch 3OED unter colonialism, n.).

Eine relativ neue Wortprägung ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen schließlich Neokolonialismus. Das Wort bezeichnet Tendenzen, andere Länder, insbesondere ehemalige Kolonien, ökonomisch, politisch, kulturell oder anderweitig unter Druck zu setzen oder zu beeinflussen. Ist neocolonialism im Englischen mindestens seit Anfang der 1950er Jahre bezeugt (vgl. 3OED unter neocolonialism, n.), begegnet es wenig später auch im Deutschen (1960, 1961, 1992).

Literatur

DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

Osterhammel 2009 Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. 6., durchgesehene Aufl. München 2009.

WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.

Belegauswahl

Die erſten Hinderniſſe der Coloniſation waren durch die Beharrlichkeit der Anbauer großentheils beſiegt; England gelangte zum alleinigen Beſitz des ganzen Kuͤſtenlandes, von Canada bis Georgien; Neu-York, Neu-Jerſey, Penſilvanien und Carolina bildeten ſich zu eignen Provinzen; andere, wie Connectitut und Rhodeisland, erhielten wichtige Freyheiten und verbeſſerte Verfaſſungen.

Heeren, Arnold H. L.: Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien, von der Entdeckung beyder Indien bis zur Errichtung des Französischen Kayserthrons. Göttingen 1809, S. 259. (deutschestextarchiv.de)

Nach einem kurzen Verweilen bei den tropischen Gegenden, welche schon ihrer, dem Deutschen widrigen, klimatischen Verhältnisse wegen, hier kaum eine Berücksichtigung finden konnten, und bei Californien, dessen Kolonisation den Amerikanern überlassen bleiben soll, weil die abgeschiedene Lage dieses Landstrichs das Emporblühen der Kolonien erschwert, kömmt der Verf. endlich bei den Staaten der Union an, welche als derjenige Boden bezeichnet werden, wo die natürlichen Bedingungen mit den politischen und socialen Hand in Hand gehen, um dem Deutschen ein wahres, heimisches Vaterland zu verbürgen; und namentlich wird den weiten, fruchtbaren, westlichen Landstrecken, dem Mississippithale, eine große, für die deutsche Kolonisation bedeutende Zukunft geweissagt.

N. N.: Allgemeine Auswanderungs-Zeitung. Organ für Kunde aus deutschen Ansiedlungen, für Rath und That zu Gunsten der fortziehenden Brüder, sowie für Oeffentlichkeit in Auswanderungssachen überhaupt. Rudolstadt (Thüringen) 1847, S. 510. (deutschestextarchiv.de)

Dem Sozialismus ist es vorbehalten, der Einsicht in diese Nothwendigkeit breite Bahn zu brechen; dem Kolonialismus mag es obliegen, zu dem, was eine nationale Selbstsucht wollen muß, den rechten Weg zu zeigen, und beide Ideen mögen vereint eine neue gewaltige Aera für unser Vaterland heraufführen und alle Kräfte unseres Volkes zusammenfassen zu einem Titanenringen um die Beherrschung des Erdballes.

Peters, Carl: Deutsch-national. Kolonialpolitische Aufsätze. Berlin 1887, S. 104. (books.google.de)

Wir schließen unsere Ausführungen mit den Worten des amerikanischen Staatsmannes:

Indien und der „Kolonialismus“.

„Niemand soll Indien anführen als ein Beispiel zur Stützung des „Kolonialismus“. […]“

N. N. [Reichskolonialamt]: Die Behandlung der einheimischen Bevölkerung in den kolonialen Besitzungen Deutschlands und Englands. Eine Erwiderung auf das englische Blaubuch vom August 1918: Report on the natives of South-West-Africa and their treatment by Germany. Berlin 1919, S. 201. (suub.uni-bremen.de)

Wie wichtig auch dem Kreml diese Gebiete sind, beweist die unverhältnismäßig hohe Zahl von Funktionären in der Sowjet-Botschaft von Addis Abeba und die Anwesenheit von mehr als 400 russischen Ärzten in der Hauptstadt des Negus. Togliatti hat den Ton geändert, als er von Militärbasen in Somalia hörte, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er in den allernächsten Tagen entdeckt, daß die KPI ja immer gegen den Kolonialismus war. Togliattis Innenpolitik ist ein Teil der Außenpolitik des Politbüro.

Die Zeit, 9. 2. 1950, Nr. 06. [DWDS] (zeit.de)

Pandit Nehru erklärte den Westmächten kürzlich in einer Ansprache in Singapur, daß die Tage des Kolonialismus vorüber wären.

Die Zeit, 5. 10. 1950, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)

Nun proklamiert zwar die Labour-Party in ihrem Programm die möglichst baldige Autonomie der Kolonialvölker, und auch die französischen Sozialisten verlangen die Liquidierung der Reste des Kolonialismus.

Die Zeit, 23. 7. 1953, Nr. 30. [DWDS] (zeit.de)

Als erster Redner trat Charles Okala, Außenminister von Kamerun, auf und wandte sich gegenden ideologischen Neokolonialismus, der den schwarzen Menschen zur Nummer in einer Masse machen wolle und der danach trachte, den Geist der afrikanischen Gemeinschaft durch eine Auffassung zu ersetzen, die weder etwas mit der Vergangenheit noch mit der Ideenwelt Afrikas zu tun habe. Die Vertreter von Dahomey und Obervolta verglichen die Beziehungen zwischen Frankreich und ihren Ländern mit den Beziehungen von Vater und Sohn – auch sie dankten speziell General de Gaulle.

Die Zeit, 30. 9. 1960, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)

In einer Entschließung zum Neokolonialismus heißt es u. a..: "Die Konferenz äußert ihr Bedauern über die Haltung einiger unabhängiger Länder Afrikas, die unter der Maske der Neutralität sich gegenüber den Fragen und Problemen ganz Afrikas passiv verhalten und durch ihre pazifistische Tätigkeit eigentlich dazu beitragen, daß der Neokolonialismus in Afrika eindringt.

Archiv der Gegenwart (2001) [1961], S. 9013. [DWDS]

Beide Seiten gaben ihrer entschlossenen Unterstützung für die Völker Asiens und Afrikas bei ihren nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen und ihrem Kampf gegen Imperialismus und alle Formen des Kolonialismus Ausdruck. Sie verurteilten die rassistische Herrschaft, die von den weißen Kolonialisten in Südafrika und Rhodesien praktiziert wird.

Archiv der Gegenwart (2001) [1970], S. 15876. [DWDS]

Eine Mitwirkung an jedweder Art von Protektorat über Somalia wird in Washington übereinstimmend abgelehnt. Dem Vorwurf des Neokolonialismus will sich niemand aussetzen.

Die Zeit, 4. 12. 1992, Nr. 50. [DWDS] (zeit.de)