Wortgeschichte
Antimoderne und Gegenmoderne: Zwei neue Substantive
Bei den beiden im Wesentlichen synonym zu verstehenden Substantiven Antimoderne und Gegenmoderne handelt es sich um relativ junge Wortbildungen: Erste Bezeugungen datieren auf die 1980er Jahre (1980a, 1983a, 1990, 1993a). Beide tragen zentral die Bedeutung gegen die Moderne gerichtet
(1983b, 1993c); beide Wörter sind zudem in alternativer Schreibweise mit Bindestrich belegt (1994, 1998).
Besonders für das Wort Antimoderne fällt auf, dass frühe Bezeugungen oft in Zusammenhang mit dem Wort PostmoderneWGd begegnen (1980a, 1980b, 1981). Vor diesem Hintergrund besteht Grund zur Annahme, dass die Ausbildung dieses Wortes, aber auch die weitere Verbreitung von Gegenmoderne, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im Kontext entsprechender Debatten der Zeit um Moderne und Post-, Nach-WGd oder SpätmoderneWGd zu verorten sind. Nicht ganz einfach zu entscheiden ist, ob es sich hier um Präfixbildungen zum Grundwort ModerneWGd handelt – die gemeinsamen Bezeugungen mit Moderne-Komposita wie Postmoderne könnten daraufhin deuten – oder aber um Ableitungen von den Adjektiven antimodernWGd (2005) und gegenmodernWGd (1991b), deren Verwendungshäufigkeit wenige Jahre vor der Bildung der Substantive steigt und die mit gegen die gesellschaftliche oder kulturelle Moderne gerichtet
entsprechende Bedeutungen tragen.
Vormoderne, Moderne und die semantische Kontur von Anti- und Gegenmoderne
Insofern sowohl Gegen- als auch Antimoderne zentral die Bedeutung gegen die Moderne gerichtet
tragen, bleiben sie semantisch ex negativo konstitutiv auf das Wort Moderne in seinem gesamten Bedeutungsspektrum bezogen. Letzteres wird Ende des 19. Jahrhunderts zunächst in Bezug auf die Literatur des Naturalismus gebildet und schnell auch auf andere Strömungen und Künste übertragen; seither kann das Wort sowohl auf Literatur und Künste der Jahrhundertwende als auch auf (zeitgenössische) Literatur- und Kunstströmungen des 20. und 21. Jahrhunderts bezogen werden. Daneben steht eine zweite Bedeutung, in der Moderne entweder ein nicht genauer festgelegtes, im Gegensatz zu einer älteren Epoche gedachtes Zeitalter oder aber speziell das (westliche) Zeitalter seit der französischen Revolution bezeichnet. Entsprechend können auch Gegen- und Antimoderne hinsichtlich ihrer Ablehnung sowohl auf eine literarische, künstlerische und architektonische (1991a, 1993b, 1995, 2001b) als auch die gesellschaftliche Moderne (1993d, 2001a, 2002b) bezogen sein. In letzterer Bedeutung begegnen vielfach Verwendungen in Bezug auf völkische bzw. rechte (2019, 1997b, 2017) sowie fundamentalistische (1997a, 2002a, 2004) Strömungen.
Neben der Relation zum Wort Moderne ist auch jene zu Wort und Konzept der VormoderneWGd für die semantische Kontur der Wörter Gegen- und Antimoderne aufschlussreich. VormoderneWGd bezeichnet die Epoche vor der (westlichen) Moderne; eine Vormoderne ist also – anders als eine Anti- oder Gegenmoderne – der Moderne zeitlich vorgelagert. Gleichwohl scheint die Imagination der Vormoderne zugleich inhaltlicher Bezugspunkt für die mit den Wörtern Gegen- und Antimoderne bezeichneten Richtungen zu sein – sei es hinsichtlich gesellschaftlicher oder politischer Vorstellungen (2002b), sei es mit Blick auf ästhetische und kulturelle Entwicklungen (2000).
Zwischen Beschreibungskategorie und negativ konnotierter Fremdzuschreibung
In der Regel handelt es sich bei der Beschreibung einer wie auch immer gelagerten Gegen- oder Antimoderne um Fremdzuschreibungen (1993d, 1997b) oder aber um Beschreibungskategorien für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen und Strömungen (1996b). Insbesondere mit Blick auf letztere ist zu ergänzen, dass die Wortbildungen Gegenmoderne und Antimoderne zwar recht jung sind, dass das, was mit den Wörtern bezeichnet wird, als Phänomen gleichwohl historisch bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen kann, insofern sie mit der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne entstehen und zugleich gegen sie gerichtet sind (1991b, 1991a, 1993b, 2001a). Gegen- und Antimoderne tragen schließlich Bedeutungsaspekte des Unzeitgemäßen, des Rückständigen, des Kulturkonservativen (1980b, 1990, 1996a) und sind häufig negativ konnotiert (1993b, 1993c).
Belegauswahl
Die Zeit, 19. 9. 1980, Nr. 39. [DWDS] (zeit.de)„Die Postmoderne gibt sich entschieden als eine Antimoderne. […]Dieser Satz gilt für eine affektive Strömung, die in die Poren aller intellektuellen Bereiche eingedrungen ist und Theorien der Nachaufklärung, der Postmoderne, gar der Nachgeschichte auf den Plan gerufen hat. […]“
Die Zeit, 19. 9. 1980, S. 47. [IDS]Gibt es ein ästhetisches Roll-back? Entwickelt sich die Postmoderne zur Antimoderne? Macht sich ein neuer Kulturkonservativismus breit?
Die Zeit, 3. 7. 1981, Nr. 28. [DWDS] (zeit.de)Ist die Postmoderne die in der Kunst artikulierte Erkenntnis des Endes des Wachstums, oder ist sie eine Antimoderne?
Koebner, Thomas: Die deutsche und österreichische Literatur. In: See, Klaus von (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft ab 1972. Bd. 20: Zwischen den Weltkriegen. Von Thomas Koebner. Wiesbaden 1983, S. 289 - 334, hier S. 318.Als eine wichtige Fraktion der nicht-nationalistischen, nicht-völkischen Gegenmoderne sind die christilichen, zumal die katholischen Autoren anzusehen.
Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 2. Frankfurt 1983, S. 850. [DWDS]Die Antimoderne ist womöglich moderner und komplexer als das, was sie ablehnt; auf jeden Fall ist sie trüber, dumpfer, brutaler, zynischer.
Die Zeit, 16. 2. 1990, Nr. 08. [DWDS] (zeit.de)Sicher, rein rationales Argumentieren war nie die Sache dieses entschieden Unzeitgemäßen und Antimodernen, der gegen die moderne Großstadt ebenso anschrieb wie gegen die Psychoanalyse, gegen Radios, Kinos, Autos oder die totale Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche ebenso wie gegen „die Atomisierung in der modernen Kunst“ (so ein Buchtitel Picards aus dem Jahr 1951).
Die Zeit, 6. 9. 1991, Nr. 37. [DWDS] (zeit.de)Schreyvogl, der es sich im Laufe von etwas mehr als einem Jahrzehnt in drei politischen Systemen einrichten konnte – bedarfsweise als Obmann des katholischen Schriftstellerverbands in der Ersten Republik oder als illegaler Nazi in den frühen dreißiger Jahren und schließlich als „antinazistischer Widerstandskämpfer“ gegen Kriegsende –, ist ein Fallbeispiel in der literarhistorischen Studie „Zäsuren ohne Folgen“ des Salzburger Germanisten Karl Müller mit dem Untertitel: „Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs seit den 30er Jahren“.
Die Zeit, 20. 9. 1991, Nr. 39. [DWDS] (zeit.de)In diesem Fall geht es darum, die unter anderem von Klaus Hildebrand und Henry A. Turner Jr. vertretene These vom gegenmodernen Gehalt des Nationalsozialismus zu widerlegen.
Die Zeit, 25. 6. 1993, Nr. 26. [DWDS] (zeit.de)Nur so, meint er, lasse sich verhindern, daß daraus eine neue Gegenmoderne entstünde, nur so könnten Fundamentalismen, Gewalt und Neorassismus bekämpft werden.
Die Zeit, 3. 9. 1993, Nr. 36. [DWDS] (zeit.de)Die Gegenmoderne prägte die russische Literatur der vierziger bis sechziger Jahre fast vollständig. Weder Wassilij Grossman noch Solschenizyn blieben davon verschont.
Der Spiegel, 22. 11. 1993, S. 61. [IDS]Die Renaissance des Nationalen ist ein giftiges Gegengift gegen diesen Fluch des Weltzerfalls. Dies gilt für alle Schlüsselbegriffe der rollenden konservativen Gegenreformation – Natur, Frau, Mann, Volk, ethnische Identität und so fort. Diese Kategorien beschwören Altes, Anthropologisches, Unveränderliches und Hinzunehmendes. Sie beschwören die Wiedergeburt der Einfachheit nach ihrem Ende. Die Gegenmoderne absorbiert, verteufelt, fegt die Fragen vom Tisch, die die Moderne aufwirft, auftischt, auffrischt. Man sagt „Natur“, aber meint, betreibt Naturalisierung.
Der Spiegel, 22. 11. 1993, S. 61. [IDS]Doch die Propagandisten der Gegenmoderne leben im Widerspruch. Sie können nie einlösen, was sie versprechen. Sie heizen mit der einen Hand den Selbstlauf der Moderne an und schnüren mit der anderen Hand die gesellschaftlichen Freiheiten ein. Es ist die Maskerade der Vergangenheit, die auf den Bühnen der Moderne als Realschauspiel aufgeführt wird. Auf dem Programm steht die Wiederverzauberung des Nationalen nach seinem Ende.
Süddeutsche Zeitung, 28. 10. 1994, S. 15. [IDS]Immer schon war er, wie er bereits früh auch weitab der Kirchenkritik mit Kitsch, Konvention und Kunst, einer fulminanten Streitschrift gegen die literarische Anti-Moderne hierzulande bewiesen hat, mit einem bemerkenswerten polemischen Talent begabt.
Berliner Zeitung, 6. 11. 1995. [DWDS]Leon Krier, der Luxemburger Übervater der architektonischen Antimoderne, sieht in den neuen Technologien höchstens ein Argument mehr, die Reparatur der Vorstädte im Stil vergangener Architekturepochen fortzusetzen.
Die Presse, 17. 6. 1996. [IDS]Den bisher wenig beachteten ästhetischen Zusammenhängen zwischen bildender Kunst und Musik im Zeitraum 1914 bis 1935 spürt die Ausstellung „Canto d’Amore“ in Basel nach, um ein neues Licht auf dieses – seitens der Kunst lange naserümpfend als unzeitgemäße Gegen-Moderne abgewertetes – Phänomen zu werfen.
Berliner Zeitung, 4. 11. 1996. [DWDS]Für Dammbeck ist die Geistes- und Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts ein Kampf zwischen Avantgarde und Reaktion, zwischen Moderne und Antimoderne.
Der Tagesspiegel, 3. 3. 1997. [DWDS]Barbers streckenweise aufschlußreiche Analyse des supranationalen Funktionierens von Kapitalgesellschaften und der unseligen Dialektik von Modernisierung und fundamentalistischer Gegenmoderne wird überdeckt von seinem missionarischen Abscheu gegen die Massenkultur.
Die Zeit, 23. 5. 1997, Nr. 22. [DWDS] (zeit.de)Noch heute klatschen die rechten Ultras um Alain de Benoist Beifall. Treibt Sie Ihre Weltanschauung nach rechts, in die Arme der Antimoderne? Nein, nein, ich bin keineswegs auf die extrem rechte Seite übergewechselt.
Der Tagesspiegel, 27. 1. 1998. [DWDS]Und doch rührt allein die Ankündigung, Moderne und Gegen-Moderne kritisch sichten zu wollen, offenbar an Urängste.
Neue Zürcher Zeitung, 20. 3. 2000, S. 29. [IDS]Als Antimoderne vergriff sie sich gerne provokant an wertvollen Elementen der Vormoderne.
taz, 13. 10. 2001, S. 18. [IDS]Mit der Moderne entstand gleichzeitig die Gegenmoderne. Das wilhelminische Bildungsbürgertum sah mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung und der jüdischen Minderheit seinen Status bedroht und versteckte diese Angst hinter den kulturpessimistischen Schlagwörtern der „Massengesellschaft“, der „Herrschaft der Mittelmäßigen“ und der drohenden „Amerikanisierung“.
Berliner Morgenpost, 4. 11. 2001, S. 33. [IDS]Und als die, weil im Krieg total zerstört, bebaut wurde, erschien sie uns als Monument der Antimoderne. Schrecklich, fürchterlich, dieser „Zuckerbäcker-Stil!“, sagten wir.
Neue Zürcher Zeitung, 2. 3. 2002, S. 85. [IDS]Dies lässt vermuten, dass das, was wir heute gemeinhin als Fundamentalismus begreifen, ein spezifisches Deutungskonzept von Religion darstellte, das sich zu Beginn des 20."Jahrhunderts global durchzusetzen begann. Das Gemeinsame der fundamentalistischen Religionsdeutung war zunächst der Versuch, über die Religion eine Gegenmoderne auszuformulieren.
Die Zeit (Online-Ausgabe), 1. 8. 2002, Nr. 32, Jg. 57, S. 36. [IDS]Die Attentate vom 11. September haben noch einmal verschärft, was als Kampf der Kulturen nur unzureichend beschrieben ist: Der Westen glaubt, es gehe um einen Kampf zwischen Moderne und Antimoderne, und er vertrete die Moderne, während ihm im Islam ein düsteres Mittelalter entgegenkomme.
Die Presse, 6. 3. 2004, S. 36. [IDS]Andererseits sieht Habermas den normativen Gehalt der Moderne bedroht – „nicht nur durch die reaktionäre Sehnsucht nach einer fundamentalistischen Gegen-Moderne, sondern auch aus dem Inneren einer entgleisenden Modernisierung selber“.
Berliner Zeitung, 23. 7. 2005. [DWDS]So entstand eine Typologie der Deutschen, die mit Umbrüchen und Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts rein gar nichts zu tun hatte und sich stattdessen so ländlich-sittlich wie anti-modern herleitete aus den Kategorien Blut und Boden, Volk und Rasse – die also nur zu leicht von den Nationalsozialisten ideologisch genutzt werden konnte.
Die Zeit, 22. 6. 2017, Nr. 26. [DWDS] (zeit.de)In einer Zeit, in der die rechte Gegenmoderne versucht, einen ethnisch-biologischen Volksbegriff durchzusetzen, ist ein solcher Satz gefährlich.
Berliner Zeitung, 23. 9. 2019, S. 8. [IDS]Denn man kann nicht die Erwärmung der Erde fürchten und die Hitze der Hetze durch die völkische Anti-Moderne ignorieren.