Wortgeschichte
68er: Sozialfigur und Bewegung des 20. Jahrhunderts
Zunächst sporadisch begegnet ab Mitte der 1970er Jahre mit der Ziffernschreibung 68er (1974a), in alternativer Schreibweise auch Achtundsechziger (1978a), eine neue Bezeichnung für Anhänger der Protestbewegungen der 1960er Jahre. Ab etwa 1980 steigt die Bezeugungsfrequenz (1979a, 1980a, 1980b). Sowohl der zeitliche Abstand von rund einem Jahrzehnt als auch die Kontexte der Verwendungen lassen den Rückschluss zu, dass das Wort – anders als andere Bezeichnungen für Sozialfiguren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie etwa HalbstarkerWGd oder GammlerWGd – erst im Zusammenhang mit einer rückblickenden Perspektive auf Ereignisse und Akteure der Protestbewegungen der 1960er Jahre weiter verbreitet ist. 68er kann sowohl auf den einzelnen Anhänger der Protestbewegungen der 60er Jahre bezogen werden – und ist damit die Bezeichnung für eine Sozialfigur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – als auch als Metonymie für das Kollektiv der Anhänger und damit für die 68er-Bewegung insgesamt stehen (1980c, 1983a).
Das Schlagwort 1968. Ableitungsgrundlage
Ableitungsgrundlage für 68er ist die Jahreszahl 1968, deren semantisches Spektrum – das ist die Voraussetzung für die Ableitung – sich gerade nicht in der Bezeichnung eines Jahres des 20. Jahrhunderts erschöpft. Vielmehr steht die Jahreszahl stellvertretend für die Proteste und die Studentenbewegung, die sich ihrerseits keinesfalls auf das Jahr 1968 beschränken. 1968 wird dabei zum Schlagwort, mit dem sich schnell eine Reihe von Bedeutungsaspekten verbindet, die von Studentenrevolte (1972) über die politische Linke (1973) bis hin zu den 68er-Ideen (1984a) reichen. Dass ausgerechnet das Jahr 1968 für die Jugend- und Studentenproteste der 60er Jahre steht, hat vermutlich damit zu tun, dass dieses Jahr international eines der ereignisreichsten der Protestbewegungen war.
Die Entwicklung hin zum Schlagwort deutet sich bereits Ende der 1960er Jahre an: So wird 1968 bereits zu dieser Zeit in die Tradition von 1848 gestellt (1969a, 1969b). Ab etwa 1970 treten dann zunächst vereinzelt, ab den 1980er Jahren vermehrt Wortbildungen mit 68er auf, die auf einem Muster beruhen, das bereits für 48erWGd charakteristisch ist. Während bei 48er die Nähe zu Wörtern wie RevolutionWGd oder BewegungWGd sich eher noch als syntaktische Einheit beschreiben lässt, lässt die vermehrte Bindestrichschreibung zu 68er vermuten, dass es über die syntaktische Konstruktion zu neuen Worteinheiten gekommen ist: Hierunter fallen 68er-Mai (1971), 68er-Revolution (1974b, 1983b), 68er-Bewegung (1978b) oder 68er-Generation (1976, 1980d, vgl. auch GenerationWGd). 68er steht hier metonymisch für die Protestbewegungen der 1960er Jahre. Vor dem Hintergrund der Entwicklung von 1968 zum Schlagwort einerseits und den daran anschließenden Wortbildungen andererseits ist im Übrigen auch die in der pluralischen Form semantisch auf den ersten Blick irritierende feste Verbindung 68er Jahre zu verstehen, die ab Ende der 1970er bezeugt ist (1978c, 1979b, 2000).
68er. Herauslösung aus dem Kompositionszusammenhang
Ab etwa Mitte der 1970er Jahre löst sich 68er, das bis dahin lediglich in Komposita bezeugt war, sukzessive aus dem Kompositionszusammenhang heraus (vgl. etwa die Belege 1974a und 1974c, in denen 68er zunächst noch über Anführungszeichen als Neuprägung markiert wird, bevor es als Wort weiterverwendet wird; 1978a). Ab den 1980er Jahren schließlich kann es als verbreitet gelten (1980e, 1997a, 2017). Seither ist zudem die Kollokation Generation der 68er bezeugt (1984b, 1998a).
Das Wortbildungsmuster erinnert damit – angesichts der Belege, in denen 1968 und 1848 aufeinander bezogen werden (1969c, 1969a, 1969b), möglicherweise nicht zufällig – an das der Ausbildung von 48er bzw. AchtundvierzigerWGd, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Anhänger der Revolution von 1848 bezeichnen kann (1898, 1983a). Gelegentlich begegnet darüber hinaus die Bildung 89er in Bezug auf Mauerfall und Wende (1990a, 1990b, 1992, 1994a, 1994b, 1995), ohne dass 89er allerdings in gleichem Maße wie 68er gebräuchlich ist. Offensichtlich gibt es eine Tendenz, zu sogenannten Umbruchsjahren ein Wort mit der entsprechenden Jahreszahl und Suffix zu bilden, das sich dann auf die Personen, die zu diesen Jahren aktiv waren, bezieht.
Alt-68er
Bereits ab Mitte der 1980er Jahre und damit nur wenige Jahre nach der Herauslösung von 68er aus dem Kompositionszusammenhang ist mit Alt-68er bzw. in alternativer Schreibweise auch Alt-Achtundsechziger eine neue Wortbildung bezeugt, die ehemalige Anhänger oder Sympathisanten der 68er-Bewegung bezeichnet (1985a, 1985b, 1987). Insofern die Verbindungen alter 68er (1982) und alte Achtundsechziger (1981) bereits Anfang der 1980er Jahre belegt sind, handelt es sich bei Alt-68er bzw. Alt-Achtundsechziger vermutlich um eine Wortbildung durch Zusammenrückung. Möglicherweise lehnt sie sich zusätzlich auch an ein bestehendes Wortbildungsmuster Alt- an, das in Substantivbildungen allerdings eher als adjektivisches Erstglied für die Bezeichnung von Rang und Titel wie etwa in Altbundeskanzler begegnet (vgl. Fleischer/Barz 2012, 159).
Allen Verwendungen des Wortes gemeinsam ist die Bedeutung ehemaliger Achtundsechziger
(1996, 1998b, 1998c). Daneben treten solche Verwendungen, in denen über diesen kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus die Bedeutung um den Aspekt erweitert ist, dass ein Alt-68er auch nach Abebben der Bewegung weiterhin die Werte und politischen Ideen der 68er-Bewegung lebt und vertritt (1994c, 2003, 2004a). Entsprechend verbinden sich mit Verwendungen in diesem engeren Sinn eine Reihe entsprechender Konnotationen, genauer die eines bestimmten politischen Spektrums (1993, 2004b), bestimmter Ideale, Werte und eines entsprechenden politischen Engagements (1997b). Nicht zuletzt verbinden sich Vorstellungen alternativer Lebensformen, wie sie sich erst in den 1960er Jahren durchgesetzt haben (2004c, vgl. auch KommuneWGd und WohngemeinschaftWGd), sowie eines bestimmten Erscheinungsbildes (1997c; vgl. daneben 1984c) mit dem Wort.
Literatur
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu 68er, Achtundsechziger, Alt-68er, Alt-Achtundsechziger.