Wortgeschichte
Antisozial und unsozial: Es gibt nicht nur ein Antonym zu sozial
Antonyme zu sozialWGd, das im Deutschen ab Ende des 18. Jahrhunderts als Entlehnung über das gleichbedeutende französische social aus dem Lateinischen sociālis bezeugt ist (vgl. 1DFWB 4, 288–293), gibt es mehr als eines: Das Spektrum reicht von antisozial über unsozial und asozialWGd bis hin zu dissozialWGd. Antisozial und unsozial, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen, sind die am frühesten bezeugten Antonyme zu sozial (1818, 1824). Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts ist asozial bezeugt (1899), dissozial ab Anfang des 20. Jahrhunderts (1903). Schon die Zahl der Antonyme, aber auch die über 100 Jahre, die zwischen den Wortprägungen liegen und sie damit in unterschiedlichen sachhistorischen Kontexte stellen, legen nahe, dass es sich bei den Wörtern nicht um Synonyme handelt, sondern um Bildungen, deren Bedeutungen und Konnotationen sich voneinander unterscheiden.
Die ersten Antonyme zu sozial entstehen vermutlich zeitlich nur wenige Jahre versetzt, antisozial dabei wohl etwas früher als unsozial (1818, 1824). Vor dem Hintergrund, dass im Englischen sowohl unsocial als auch antisocial als Antonyme zu social bereits früher bezeugt sind als im Deutschen (vgl. 3OED unter social, adj. and n. sowie 3OED unter antisocial, adj.), ist bemerkenswert, dass unsozial in einer der ersten Bezeugungen im Deutschen gerade im Zusammenhang mit England begegnet (1831a). Sowohl die DWDS-Wortverlaufskurven (Abb. 1 ) als auch die Verlaufskurve des Google NGram Viewers legen nahe, dass antisozial bis ungefähr zur Jahrhundertwende häufiger verwendet wird als unsozial. Erst danach löst unsozial das Wort antisozial hinsichtlich der Verwendungshäufigkeit ab.
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu antisozial und sozial
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Von Ungeselligkeit und Gegengesellschaftlichkeit. Das Wort unsozial
Unsozial kann seit den frühesten Bezeugungen nicht gesellig lebend, sich von sozialen Zusammenkünften fernhaltend, keinen oder wenig sozialen Umgang pflegend
bedeuten (1831a, 1907). Das zugrundeliegende Paradigma ist hier das der Geselligkeit. Daneben steht die Bedeutung gegen die Interessen anderer Personen oder Personengruppen gerichtet
, deren Bezugssystem nicht ein älteres Geselligkeitsparadigma, sondern das um 1800 entstandene Abstraktum Gesellschaft ist. Diese Bedeutung bildet drei Unterbedeutungen aus: Unsozial kann erstens gegen die Gesellschaft und ihre Interessen gerichtet
bedeuten (1920). Das Wort wird damit in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes gesetzt; der- oder dasjenige, der/was als unsozial bezeichnet wird, wird mithin außerhalb der Gesellschaft und in einem mehr oder weniger feindlich zu ihr gedachtem Gegensatz stehend gefasst. Dahingegen wird das Unsoziale zweitens in Verwendungen mit der Bedeutung gegen die Interessen sozial Schwächerer gerichtet
(1912, 2017) innerhalb der Gesellschaftsordnung verortet. Das zugrundeliegende Paradigma ist hier das der gesellschaftlichen Gerechtigkeit (1954). Beide Verwendungsweisen beziehen sich in der Regel auf größere Personengruppen. Daneben tritt schließlich drittens die Bedeutung egoistisch, gegen die Interessen der Mitmenschen gerichtet
(1931, 1997). Auch hier wird das Unsoziale innerhalb der Gesellschaftsordnung verortet, kann jedoch auch auf individuelle Verhaltensweisen bezogen werden (2000a), hier auch in der Wortverbindung unsoziales Verhalten (1931, 1994).
Zwischen unsozial
und dissozial
. Das Wort antisozial
Antisozial erscheint in den ersten Jahren nach der Wortprägung in ganz unterschiedlichen Kontexten und ist offenbar semantisch zunächst noch nicht festgelegt (1830, 1831b, 1848): Es kann seit dem 19. Jahrhundert im weiteren Sinn gegen die Gesellschaft gerichtet
(1876, 1892a, 1971) bedeuten, hier synonym zur entsprechenden Bedeutung von unsozial, aber auch außerhalb der Gesellschaft stehend
(1892b). In dieser Bedeutung ist das Wort negativ besetzt und kann Konnotationen wie gewalttätig, aggressiv
tragen (2007a, 2007b).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich daneben eine semantische Nähe zu asozial. Letzteres ist bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts belegt, zunächst semantisch noch mit recht weitem Bedeutungsspektrum. Ab den 1910er Jahren wird es mit gesellschaftlich randständigen Personengruppen verknüpft. Bereits zu Zeiten der Weimarer Republik hat die Fremdzuschreibung die Funktion der diskursiven Ausgrenzung ganzer Personengruppen; diese Entwicklung setzt sich während des Nationalsozialismus fort. Zugleich wird das Wort nun weltanschaulich aufgeladen (vgl. zur semantischen Entwicklung im Detail auch den Artikel asozialWGd). In dieser Bedeutung zeigt sich zu dieser Zeit nun auch eine semantische Nähe von antisozial und asozial (1909, 1925, 1940).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt antisozial in psychologischen und psychiatrischen Kontexten auf (1981) und wird in der Wortverbindung antisoziale Persönlichkeitsstörung (1996) – eine Übersetzung aus dem Englischen (1989) – zu einer Krankheitsbezeichnung, die erstmals 1968 in der Konzeption der zweiten Fassung der Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-II 1968, siehe hier den Abschnitt Antisocial personality
in Kapitel V Personality Disorders and certain other non-psychotic mental Disorders
) begrifflich so bezeichnet wird (2000b; vgl.
Abel/Dulz 2017, 8). Antisozial rückt semantisch damit in die Nähe von dissozialWGd, das sozial auffälliges, von der Norm abweichendes Verhalten aufweisend, das i. d. R. in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen steht, bezeichnet.
Literatur
Abel/Dulz 2017 Abel, Torvi/Birger Dulz: Die Historie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung: Vom Skrupellosen über psychopathische Persönlichkeiten zur Antisozialen Persönlichkeitsstörung. In: Birger Dulz u. a. (Hrsg.): Handbuch der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Stuttgart 2017, S. 3–12.
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
DSM-II 1968 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Second Edition (DSM-II). Published by American Psychiatric Association. Washington 1968. (archive.org)
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu antisozial, unsozial.