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sozialisch

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Das heute kaum mehr bekannte sozialisch ist erstmals bereits Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt. Vermutlich handelt es sich hier um eine Spontanbildung, jedenfalls scheint erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anzahl der Belege ein wenig anzusteigen. Zu dieser Zeit kann es sowohl als Synonym für sozial als auch in politischen Kontexten mit der Bedeutung sozialdemokratisch oder sozialistisch verwendet werden. Mit dem semantischen Auseinandertreten von sozial und sozialistisch im 20. Jahrhundert erhält auch sozialisch eine leicht veränderte semantische Kontur. So wird sozialisch im 20. Jahrhundert kaum mehr im Sinne eines breit gefassten Verständnisses von sozial verwendet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Wort gelegentlich als verknappte Form für sozialistisch gebraucht.

Wortgeschichte

Sozialisch: Ein fast unbekanntes Wort

Kaum jemand wird heutzutage wohl noch das Wort sozialisch verwenden – und doch gehört es zum (historischen) Wortschatz des Deutschen. Schon die Erstbearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm bucht sozialisch Anfang des 20. Jahrhunderts als ungewöhnlich (bezw. veraltet) für sozial (vgl. 1DWB 16, 1826) und das Deutsche Fremdwörterbuch verweist darauf, dass sozialWGd im 19. Jahrhundert vereinzelt auch in der Form sozialisch bezeugt sei (1DFWB 4, 288–293). Besonders weite Verbreitung scheint das Wort denn auch nicht gehabt zu haben. Und doch gab und gibt es das Wort – noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es zwar nur selten aber doch bezeugt.

Sozialisch zwischen sozial, sozialdemokratisch und sozialistisch im 19. Jahrhundert

Erstmals bezeugt ist sozialisch bereits Ende des 18. Jahrhunderts, zunächst mit der Bedeutung sozial (1777) – und damit zu einer Zeit, in der sozial über das gleichbedeutende französische social aus dem lateinischen sociālis ins Deutsche entlehnt wird (vgl. sozialWGd sowie 1DFWB 4, 288–293). Vermutlich handelt es sich hier um eine Spontanbildung, jedenfalls scheint erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anzahl der Belege ein wenig anzusteigen (1845, 1853, 1874). Sozialisch kann zum einen mit der Bedeutung sozial im heutigen Verständnis verwendet werden (1853, 1894, 1897). Zum anderen tritt das Wort in Bezug auf politische Haltungen auf, hier dann in der Bedeutung sozialdemokratisch bzw. sozialistisch (1850, 1876, 1892, 1922). Hier ist zu berücksichtigen, dass sozial und sozialistisch ihrerseits im 19. Jahrhundert wohl mindestens noch eine ähnliche Bedeutung haben und erst im 20. Jahrhundert endgültig auseinander treten (so zumindest nachzulesen bei Zimmermann 1948, 181). Bisweilen begegnet sozialisch mit dieser Bedeutung im 19. Jahrhundert im Übrigen in politisch motivierten Versdichtungen auf (1871, 1876); hier mag die Metrik ihren Anteil an der Bevorzugung von sozialisch gegenüber sozialistisch, sozialdemokratisch oder sozial gehabt haben.

Von sozialischer Erziehung und sozialischem Realismus. Verwendungen im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert wird sozialisch kaum mehr im Sinne eines breit gefassten Verständnisses von sozial verwendet; wenn es synonymisch für sozial verwandt wird, dann im Sinne eines sozialistischen Wortverständnisses (1922). Möglicherweise von hier aus wird sozialisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vereinzelt auch als verknappte Form für sozialistisch gebraucht (1948, 1962), so insbesondere auch in der Wortverbindung sozialischer Realismus (1992), wobei hier nicht immer ganz klar ist, ob es sich tatsächlich um den Gebrauch des Worte sozialisch oder lediglich um einen Druckfehler handelt (1969). In das in der DDR erarbeitete Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) schafft es sozialisch jedenfalls nicht und auch in den Einträgen zu sozialistisch und Sozialismus findet es keine Erwähnung.

Literatur

1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)

1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)

WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.

Zimmermann 1948 Zimmermann, Waldemar: Das „Soziale“ im geschichtlichen Sinn- und Begriffswandel. In: L. H. Ad. Geck/Jürgen von Kempinski/Hanna Meuter: Studien zur Soziologie. Festgabe für Leopold von Wiese. Bd. 1. Mainz 1948, S. 173–191.

Belegauswahl

Wollte jemand, wie ich gewiß glaube, die Wahrheit des Christenthums und den Geist der evangelischen Politik nicht nur schriftstellerisch und kathedralisch, sondern politisch, statistisch, ökonomisch und sozialisch wirklich, kräftig und praktisch machen: so würde sein Beginnen schwärmerisch genannt werden, weil das göttliche Weltgesez des Christenthums aus dem Koder des Himmels genommen, und von den Sitten des Himmels abgeleitet ist, welche der Typus menschlicher Sitte seyn sollten, damit auf Erden der Wille Gottes geschähe, wie er im Himmel geschiehet.

Kleuker, Johann Friedrich: Beantwortungsversuch einer im deutschen Merkur aufgeworfenen Frage. In: Deutsches Museum. Erstes Stück. Leipzig 1777, S. 223–254, hier S. 251. (books.google.de)

Ich darf wohl voraussetzen, daß die Dorfnovelle, deren Titel vermuthen läßt, daß sie vielleicht sozialisch ist, in Censur-Hinsicht keine Hindernisse finden wird, indem diese etwas strenge gegen solche Ideen ist. Es soll mir lieb sein, die Novelle etwa binnen sechs Wochen zu erhalten, wo ich sie dann auch bald zum Abdruck bringen könnte.

Brief von Du Mont an Alexander Weill, 9. Januar 1845. In: Briefe hervorragender verstorbener Männer Deutschlands an Alexander Weill. Zürich 1889, S. 175–177, hier S. 176.

Hr. Müller, von welchem wir übrigens bemerken können, daß seine sozialisch-kommunistisch-demokratische Anschauung keine Märzerrkungenschaft, sondern viel älteren Ursprungs ist, – Hr. Müller machte sich nun selbst als den Dichter des Liedes „vom Winde“ bekannt, las noch ein anderes Gedicht vor und empfing aus dem Munde von Seelhof noch einmal das Lob eines großen Dichters und einer tüchtigen Stütze der Demokratie.

Beilage zu Nro. 82 der Neuen Münchener Zeitung, 6. 4. 1850, S. 661. (books.google.de)

Unter der Bezeichnung einer sozialisch-politischen Studie gibt Riehl in der Cotta’schen Vierteljahresschrift eine ausführliche Abhandlung über die Sitte des Hauses, aus welcher wir eine Skizze ausziehen, die den Unterschied des Trinkens und Kneipens darlegt.

Mnemosyne. Beiblatt zur Neuen Würzburger Zeitung, 10. 7. 1853, Nr. 55, S. 223. (books.google.de)

[…]
Leicht ist ihm der Sieg geworden, weil man schwach nur opponirte,
Unsere Oppositionellen werden immer mehr Blasirte,
Kühl nur lächeln die Blasirten, lächeln auch zu der Gebahrung
Jener neunundneunzig Ritter, die da wählten mit Verwahrung;
Auch zur Petition der Stainzer gegen Hetzerei der Pfaffen
Lächeln sie, als ob wir lebten in dem Lande der Schlaraffen,
können auch darüber lächeln, wenn die Fremden uns verspotten,
Weil politisch wir erscheinen nicht gebraten, nicht gesotten,
Nicht gebraten, nicht gesotten, kommunal und sozialisch.
Unser ganzer Lebensinhalt ist spezifisch theatralisch.
[…]

Figaro. Humoristisches Wochenblatt 15, 23. 12. 1871, Nr. 59, S. 234. (books.google.de)

In Betreff der neuen Bauernedicte wird darauf hingewiesen, daß der Wahlspruch der russischen Regierung rein sozialisch sei. In dieser Beziehung trügen die Bergs, Annenkoffs und Murawieffs die Fahne ihres verstorbenen Herrn und Meisters Nikolaus I.

Bukowina 3, 30. 3. 1864, Nr. 72. (onb.ac.at)

Lieder zur Wahlagitation.
Neuhauser Vierzeilige.

D’Liberalen denunzieren halt
D’Arbeiter so gern,
Da sollten d’Liberale
Polizeispitzel wern.

In Neuhausen san ja
Ganz kernbrave Leut‘,
Dö wähln „sozialisch
Da hob i mei Freud!

Sozialdemagraten
San dö Neuhaus’ner alle,
Drum solln’s a leben,
D’rum th’ans mer a gfalln!

Von einem Arbeiter

Der Zeitgeist. Organ des arbeitenden Volkes 4, 30. 8. 1876, Nr. 196, S. 4. (books.google.de)

Am liebsten hätte der Bauer gesagt, das allgemeine gleiche Wahlrecht sei ein verdammter Unsinn; aber da fiel ihm noch zu guter Zeit ein, daß er ja jetzt „sozialisch“ sei; da durfte er soetwas doch wohl nicht äußern.

Polenz, Wilhelm von: Die Unschuld und andere Federzeichnungen. Dresden/Leipzig 1892, S. 185.

Daneben aber hat sich der Meister immer wieder über den Eigennutz von Mitarbeitern zu beklagen. „Ich bin bereit, mein Hab und Gut für das Beste der Gesellschaft zu geben, und Sie nehmen von Ihrer ersten Einlage, die 17 Fl. beträgt, gleich 11 hinweg. Ist das sozialisch? Mir möchte das Herz bluten, wenn ich so viel Eigennutz und so wenig Liebe für das Ganze sehe.“

Kluckhohn, August: Die Illuminaten und die Aufklärung in Bayern unter Karl Theodor. In: Ders. (Hrsg.): Vorträge und Aufsätze. Herausgegeben von K. Th. Heigel und Ad. Wrede. München/Leipzig 1894, S. 344–399, hier S. 365.

Nicht ohne Grund wird jedoch in der Unausgeglichenheit unserer Zeit bei der Berufswahl von Erziehern die Erwerbsfähigkeit, der Ertrag ins Auge gefasst, zuweilen aber nicht am rechten Orte, in der rechten Weise, sei es aus Befangenheit oder aus Mangel an Umsicht und Weite des Blicks. Solange eben, wie oben des weiteren ausgeführt wurde, die verschiedene Arbeit verschieden gewertet wird und mancher Beruf in seiner wahren Wirkung und Bedeutung verkannt, ja geradezu geächtet bleibt, solange wird auch die Vorliebe für sozialisch geaichte Arbeit und die Erwählung bestimmter Berufe als nicht ganz ungerechtfertigt gelten dürfen – gleichwohl ist solche Denkart nicht besonders hoch geschätzt.

Deutsche Blätter für Erziehenden Unterricht 24 (1897), Nr. 48, S. 383.

Sozialistisch erziehen heißt vor allem sozialisch leben; und dadurch gestaltend wirken auf das kommende Geschlecht.

Die sozialistische Erziehung. Reichsorgan des Arbeitervereins „Kinderfreunde“ für Österreich 2 (1922), Nr. 1, S. 3.

Diese Kritik von Engels zeigt genau, warum jene radikalen, mitunter sozialisch orientierten Intellektuellen, die in den Vierziger Jahren bei Feuerbach eine philosophische Grundlage für ihren politischen Radikalismus gesucht haben, hier ebensowenig eine Richtschnur finden konnten wie jene, die eine solche aus der Hegelschen Dialektik entnehmen wollten.

Lukács, Georg: Die Entäußerung als philosophischer Zentralbegriff der „Phänomenologie des Geistes“. In: Hans Friedrich Fulda/Dieter Heinrich (Hrsg.): Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt a. M. 1976 [1948], S. 276–325, hier S. 315.

[…]Anmerkung Es muss hervorgehoben werden, daß dieses Werk als das erste hervorragende und noch jetzt vorbildhafte Beispiel eines Vokalwerks großen Formats sozialisch-realistischer Haltung und Methode in der Deutschen Demokratischen Republik zu gelten hat.

Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 11 (1962), Nr. 2, S. 182.

Aber der sozialistische Realismus, um die Sache beim Namen zu nennen, ist keine starre Konzeption der Kunst, er ist nicht erlernbar, er läßt sich nicht in Rezepte fassen. Der sozialistische Realismus, so wie ich ihn verstehe, ist nicht notwendigerweise das, was man hierzulande so nennt, und auch nicht das, was die sowjetischen Schriftsteller mit diesem Namen belegen. […]

Ich muß das heute abend einmal aussprechen: solche Bücher sind für mich kein sozialischer Realismus.

Aragon, Louis: Man muß die Dinge beim Namen nennen. In: Fritz Raddatz (Hrsg.): Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 159–183, hier S. 160–161.

Die Forderung, sozialisch-realistische Bücher sollten optimistisch sein, wird verständlich, wenn man Wolfs Auffassung der Funktion der Literatur berücksichtigt.

Bekasiński, Jan: Christa Wolfs Konzeption einer modernen Prosa. Toruń 1992, S. 31.