Wortgeschichte
Asozial – dissozial. Entstehung zweier neuer Antonyme zu sozial im 20. Jahrhundert
Mit dissozial und asozialWGd entstehen um 1900 zwei neue Antonyme zu sozialWGd, die sich in ihrer Bedeutung zwar von den älteren Antonymen antisozialWGd und unsozialWGd
unterscheiden, zunächst aber eine deutliche semantische Nähe zueinander aufweisen (1907, 1909, 1903). Dissozial wird Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere mit der Bedeutung sozial auffälliges, von der Norm abweichendes Verhalten aufweisend
im Kontext der Beschreibung psychischer Erkrankungen geprägt (1903). Es handelt sich um eine Bildung aus dem Adjektiv sozial und dem bei Adjektiven eigentlich eher schwach entwickelten exogenen Präfix dis- (lat. auseinander
, vgl.
Fleischer/Barz 2012, 355).
Dissozial: Ein Wort des psychiatrischen und psychologischen Fachdiskurses
Anders als asozial, das von Beginn an nicht auf den psychiatrischen Diskurs beschränkt war, im Laufe des 20. Jahrhunderts einen Bedeutungswandel durchläuft und wohl auch deswegen im direkten Vergleich mit dissozial insgesamt eine höhere Verwendungsfrequenz hat (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers), bleibt die Grundbedeutung von dissozial seit seiner Bildung relativ stabil. Und auch wenn es einzelne Bezeugungen außerhalb des Fachdiskurses gibt, in denen dissozial schlicht mit der Bedeutung unsozial
verwendet wird (1907, 2017c), so scheint das Wort doch vorwiegend in den entsprechenden Fachkontexten sowie unter Bezugnahme auf eben dieselben gebraucht zu werden (2000b, 2011, 2017b). Das ist zunächst und insbesondere der psychiatrische und psychologische Diskurs (1903, 1926, 1932, 2017a). Daneben tritt das Wort aber auch in pädagogischen Kontexten auf (1967, 2003).
Unterschiedliche diskursive Grundierungen
Bei aller Stabilität der Bedeutung innerhalb des psychiatrischen, psychologischen und medizinischen Diskurses verbinden sich über das vergangene Jahrhundert allerdings unterschiedliche Konzeptualisierungen mit den Wörtern dissozial und Dissozialität, deren diskursive Grundierung ihrerseits unterschiedlich ist. So entsteht dissozial als Wort ungefähr zeitgleich zur Entstehung erster typologischer Ansätze in der Beschreibung von Persönlichkeitsstörungen, wie sie etwa der deutsche Psychiater Emil Kraepelin mit der Unterscheidung psychopathischer Zustände
bzw.
psychopathischer Persönlichkeiten
leistet (vgl.
Abel/Dulz 2017, 5). Zu Zeiten des Nationalsozialismus wird Dissozialität an den Rassenhygienediskurs rückgekoppelt: Endogene Dissozialität
gilt als rassisch
oder erblich
bedingt (1933). Damit wirken hier erkennbar ältere Diskurse nach: Die Degenerations- bzw. Entartungslehre ist das vorherrschende Paradigma der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der französische Psychiater Benedict Augustin Morel etwa verstand psychische Störungen als Folge einer Vererbung von schädlichen Umwelteinflüssen; der italienische Psychiater Cesare Lombroso verband in seiner Abhandlung über geborene Verbrecher
Degenerationslehre und Evolutionstheorie (vgl.
Abel/Dulz 2017, 4). Als endogen dissozial
eingestufte Personen werden zur NS-Zeit aus der Volksgemeinschaft
ausgeschlossen, dauerhaft interniert oder im Rahmen von Euthanasieprogrammen ermordet (vgl. etwa Siedler/Smioski 2012, 42).
Im medizinischen Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dissozial Teil der Wortverbindung dissoziale Persönlichkeitsstörung, die ein eigenes Krankheitsbild bezeichnet (1991, 2000a). Als Krankheitsbezeichnung wird dissoziale Persönlichkeitsstörung erstmals in der in den 1980er Jahren erarbeiteten zehnten Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (ICD), einem weltweit anerkannten Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, aufgenommen und aus dem Englischen ins Deutsche übernommen (vgl.
Abel/Dulz 2017, 19). Eine Dissoziale (Antisoziale) Persönlichkeitsstörung
ist hier definiert als eine
Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründig Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist. [2017a]
Literatur
Abel/Dulz 2017 Abel, Torvi/Birger Dulz: Die Historie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung: Vom Skrupellosen über psychopathische Persönlichkeiten zur Antisozialen Persönlichkeitsstörung. In: Birger Dulz u. a. (Hrsg.): Handbuch der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Stuttgart 2017, S. 3–12.
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Fritz 2007 Fritz, Regina: Die „Jugendschutzlager“ Uckermark und Moringen im System nationalsozialistischer Jugendfürsorge. In: Ernst Berger (Hrsg.): Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung. Wien u. a. 2007, S. 303–332.
Siedler/Smioski 2012 Siedler, Reinhard/Andrea Smioski: Gewalt gegen Kinder in Erziehungsheimen der Stadt Wien. Endbericht. Wien 2012. (wienbibliothek.at)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu dissozial.