Wortgeschichte
Ein juristisches Fachwort
Das Adjektiv bürgerlich ist seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts belegt. Damit tritt es um einiges später in der Überlieferung auf als seine Ableitungsbasis BürgerWGd, die schon seit dem 9. Jahrhundert tradiert ist. Die ersten Bezeugungen des Adjektivs, die vorwiegend in rechtlichen Zusammenhängen stehen, sind dabei im Hinblick auf ihre Semantik nicht so sehr von der Bedeutung des Substantivs Bürger als vielmehr von dem lateinischen Adjektiv cīvīlis bürgerlich, den Staat betreffend
bestimmt. In seinen ältesten Bezeugungen ist das Adjektiv damit als rechtssprachliche Lehnübersetzung von lateinisch cīvīlis zu beschreiben (vgl. 2DWB 5, 1019).
Früh ist auch der juristische Terminus bürgerliches Recht überliefert, der das lateinische iūs cīvīle wiedergibt, eine Verbindung, welche ursprünglich die Gesamtheit der für römische Bürger geltenden rechtlichen Vorschriften bezeichnete. Im Deutschen stehen die Übersetzungen bürgerliches Recht oder auch bürgerliches Landrecht, ganz dem lateinischen Vorbild entsprechend, für das Privatrecht, d. h. für die rechtlichen Beziehungen zwischen Privatpersonen (1605, 1727, vgl. auch den Beleg 1654 mit ironischem Gebrauch). Als Privatrecht steht das bürgerliche Recht im Gegensatz zum natürlichen Recht (1674), zum Staatsrecht (1679), zum peinlichen Recht als dem Strafrecht (1693, 1717) oder auch zum öffentlichen Recht (1867). Auch die Bezeichnung bürgerliches Gesetzbuch, die schließlich auch 1896 der bis heute gültigen Kodifikation des Privatrechts ihren Namen gibt, steht in dieser Tradition, der das französische code civil und droit civil dann möglicherweise noch weiteren Nachdruck verliehen hat (1774, 1811a, 1874; zum französischen civil s. 1DHLF 457).
Eigenschaftszuschreibungen
Jenseits dieser juristischen Gebräuche treten dann aber schon im 15. Jahrhundert Verwendungen auf, in denen das Adjektiv Eigenschaften von BürgerWGd zum Ausdruck bringt und damit deutlich als Substantivableitung zu beschreiben ist (vgl. 2DWB 5, 1019). Bei den Charakterisierungen, die über das Adjektiv hergestellt werden, kann es sich um die unterschiedlichsten semantischen Relationen zur Ableitungsbasis handeln, so z. B. für einen Bürger typisch
, einen Bürger betreffend
, einem Bürger gehörig
oder auch zwischen Bürgern
. Dabei kommt dann die gesamte Bedeutungsvielfalt des Wortes BürgerWGd von Stadtbewohner
und Patrizier
über Staatsbürger
zu Angehöriger der besitzenden Klasse
zum Tragen, so dass sich insgesamt ein recht breites semantisches Spektrum ergibt (vgl. als Beispiele die Belege 1626, 1728, 1895a). Auch die Verbindungen bürgerliches Trauerspiel Tragödie mit Personen aus der realen Lebenswelt (anstelle adliger, antiker oder mythologischer Figuren)
und bürgerliche Freiheit einem Staatsbürger zustehende Freiheitsrechte
enthalten das Adjektiv in dieser deutlich personen(gruppen)bezogenen Verwendung (vgl. die Belege 1769 und 1754). Auch als differenzierende Standesbezeichnung, die einen Unterschied zwischen Bürgertum und dem Adel bzw. den Bauern markiert, wird das Adjektiv verwendet (1645, 1704, 1730, vgl. noch 2022).
Auch bei diesen Gebräuchen spielt zum Teil noch das lateinische cīvīlis hinein. So lehnt sich die Verbindung bürgerlicher Krieg Krieg zwischen Staatsbürgern, Bürgerkrieg
erkennbar an das Vorbild bellum cīvīle an (1624, 1797). Seit Mitte des 17. Jahrhunderts ist dazu dann parallel auch das Kompositum Bürgerkrieg überliefert, das sich letzten Endes gegenüber dem Mehrwortausdruck durchgesetzt hat (vgl. 1652).
Übertragungen und Wertungen
Für die Bedeutungsgeschichte des Adjektivs bürgerlich sind vor allem die stereotypen Vorstellungen relevant, die sich mit der Sozialfigur des Bürgers verbinden und die in metonymischen Übertragungen zum Ausdruck kommen. Die entsprechenden Zuschreibungen tendieren dabei in unterschiedliche Richtungen: Zum einen werden mit bürgerlich positive Eigenschaften wie Tugend, Ehrlichkeit oder Bescheidenheit assoziiert, und es finden sich auch oft Belege, in denen bürgerlich mit gemütlich
in Verbindung gebracht werden kann. Dies liegt z. B. bei Verbindungen wie bürgerlich guter Kaffee (1834), bürgerlich bescheidenes Gärtchen (1811b) oder bürgerliche Wohlbehäbigkeit und Beschränktheit (1835a, 1840) vor. Auf der anderen Seite können diese stereotypen Zuschreibungen auch ins Negative umschlagen; bürgerlich bedeutet in diesem Fall geistig beschränkt
oder verklemmt
(so etwa 1800a) und die bürgerlichen Verhältnisse sind dann typischerweise eng (1833). Hier liegt eine deutliche Annäherung an die Bedeutung von spießbürgerlichWGd vor. In dieser Hinsicht verstärkend haben hier sicherlich auch antibürgerliche Einstellungen und Ressentiments politisch links stehender Autoren gewirkt, die skeptisch bis feindlich auf das Bürgertum blicken (1848, 1907a, 1969, 1999).
Das Bürgerliche als das Allgemein-Menschliche
Mit dem Aufstieg des Bürgertums zur bestimmenden gesellschaftlichen Kraft des bürgerlichen Zeitalters (1835b) wird auch das Verhältnis von Mensch
und Bürger
neu gedeutet. Die bürgerliche Gesellschaft wird nun vielfach gleichgesetzt mit der menschlichen Gesellschaft schlechthin, allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass es sich hierbei um die zivilisierte, gesittete Menschheit handelt; die Bedeutung von bürgerlich ist hier also mit zivilisiert
anzugeben (so bereits 1581, 1682, 1780, 1800b, 1809a, 1809b). Es ist nicht auszuschließen, dass auch in dieser Bedeutungsentwicklung ein Reflex von lateinisch cīvīlis oder auch französisch civil vorliegt (dann als Lehnbedeutung), da beides ebenfalls gesittet, zivilisiert
bedeuten kann (vgl. ThLL 3, 1217, TLFi unter civil).
Einen Anschluss an zivilWGd zeigt übrigens auch die Verbindung bürgerliche Baukunst als Sammelbezeichnung für die der Festungsbaukunst entgegengesetzte Architektur (1757). Hier gibt bürgerlich das Lehnwort zivil in der Bedeutung nicht-militärisch
wieder. Es handelt sich in diesem Fall somit um eine Lehnbedeutung.
In einer kleineren Anzahl von Verbindungen entwickelt sich bürgerlich geradezu zu einem Synonym von sozialWGd. Zu nennen sind hier bürgerlicher Tod Verlust der staatsbürgerlichen Rechte
(1673, 1697, 1983) und bürgerliche Existenz wirtschaftlich abgesichertes Leben als vollgültiges Mitglied der Gesellschaft
(1788, 2014).
Die bürgerlichen Parteien und die bürgerliche Mitte
In der sozialistischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wird bürgerlich zu einem Stigmawort (vgl. die dazu bereits angeführten Belege 1848, 1907a, 1969, 1999). In diesem Sinne findet es auch Eingang in die Verbindung bürgerliche Parteien (meist im Plural). Damit sind zunächst sämtliche nicht-sozialistischen Parteien des Reichstags mit einem Sammelbegriff bezeichnet. Das Attribut verdeutlicht hier, dass diese Parteien ausschließlich den Interessen der bürgerlichen Klasse dienen (vgl. 1895b, 1906; im Beleg 1907b auch als Gegensatz zur proletarischen Partei). Allerdings findet die Verbindung die bürgerlichen Parteien mindestens schon Anfang des 20. Jahrhunderts auch als Selbstbezeichnung der entsprechenden politischen Kräfte bzw. als neutral-beschreibender und sogar positiv besetzter Ausdruck Verwendung (1905, 1909). Die damit eingetretene Bedeutungsverbesserung setzt sich im Sprachgebrauch der Bundesrepublik fort, auch in der Darstellung der politischen Verhältnisse anderer westlicher Staaten (1954, 1998a, 2004a). Die bürgerlichen Parteien werden – vor allem im Selbstverständnis ihrer Vertreter – als Parteien der gesellschaftlichen Mitte begriffen; daher auch die Verbindung die bürgerliche Mitte als Ausdruck für die ökonomisch weitgehend abgesicherte, politischen Extremen und Abenteuern skeptisch gegenüberstehende und tendenziell konservative Gesellschaftsschicht (1931, 2004b). Dabei ist neben der traditionellen Abgrenzung der bürgerlichen Parteien bzw. der bürgerlichen Mitte gegenüber dem linken Parteienspektrum auch die Abgrenzung gegenüber rechtsextremen Strömungen konstitutiv (1998b, 2016, 2017a). Ob rechtspopulistische Parteien als bürgerlich zu bestimmen sind, kann dabei auch Gegenstand unterschiedlicher Debattenpositionen sein (2017b).
Literatur
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
ThLL Thesaurus linguae Latinae. Editus iussu et auctoritate consilii ab academiis societatibusque diversarum nationum electi. Vol. I ff., 1900 ff. (Leipzig bis 1999, München/Leipzig bis 2006; Berlin/New York ab 2007). (badw.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu bürgerlich.