Wortgeschichte
Lateinische Herkunft
Die Personenbezeichnung Proletarier geht auf lateinisch prōlētārius der untersten Volksklasse angehörig
bzw. Bürger der untersten Klasse
zurück. Das Wort Proletarier tritt zunächst in Texten zum alten Rom auf (1804, 1811), ist also in dieser frühen Phase seiner Geschichte noch als Exotismus anzusehen. Darüber hinausreichende Anwendungen kommen im frühen 19. Jahrhundert lediglich vereinzelt vor (so steht Proletarier in einem Beleg von 1812 für die Jakobiner der französischen Revolution, vgl. auch 10Paul 765).
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Das lateinische Adjektiv ist zu dem Substantiv prōlēs Nachkomme
gebildet. Mit dem Wort sind also ursprünglich diejenigen Bürger gemeint, die dem Staate nicht mit eigenem Vermögen, sondern lediglich mit ihrer Nachkommenschaft dienen können (vgl. pfeifer1 unter ProletarierDWDS). Aufgrund ihrer Besitzlosigkeit waren die proletarii in älterer Zeit auch vom Militärdienst ausgeschlossen, da sie nicht in der Lage waren, aus eigenen Mitteln Bewaffnung und Ausrüstung zu stellen (vgl. 2Pauly unter Proletarii).
Revolutionäre Einflüsse
Eine deutlichere Dynamik in der Geschichte des Wortes Proletarier, die auch die antiken Bezüge zurücktreten lässt, ist ab den 1830er Jahren zu erkennen. Neben dem lateinischen Wort spielt nun zunehmend das französische Substantiv (und Adjektiv) prolétaire als maßgebliche Quelle des Wortgebrauchs eine Rolle; die lateinischen Ursprünge werden somit durch jüngere französische Einflüsse überlagert. Der französische Ausdruck (der ebenfalls auf das Lateinische zurückgeht) wird dort bereits Mitte der 1820er Jahre auf die ärmsten sozialen Schichten Frankreichs bezogen; so ist laut TLFi unter prolétaire bereits 1825 bei dem Sozialphilosophen Henri de Saint-Simon von der proletarischen Klasse
(classe prolétaire) die Rede (vgl. auch 1DHLF 1771). Den wesentlichen Kontext für die Verbreitung des Wortes in den europäischen Sprachen bilden aber die sozialen Unruhen und Umwälzungen der 1830er und 1840er Jahre, die in der Regel von Frankreich ausgehend sich auf größere Teile Europas erstreckten (1840). Zunächst bezeichnete das Wort zwar offenbar noch allgemein die ärmeren Schichten einer Gesellschaft (vgl. 1839), es wird dann aber zunehmend spezifischer im Sinne von besitzlose Arbeiterschaft, Industrieproletariat
, verwendet und in einen Gegensatz zu Bürgertum gestellt, dies vor allem im Manifest der Kommunistischen Partei
und den Schriften von Karl Marx (vgl. 1848e, 1867). Insofern tritt hier eine Bedeutungsverengung ein.
Zwischen Schlagwort und Stigmawort
Proletarier wird schon ab den 1840er Jahren (1842), spätestens aber seit der Zeit um 1848/49 zu einem Schlagwort der aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Dabei ist, wenn man auf die gesamte Wortgeschichte blickt, auffallend, dass der Schlagwortcharakter über einen sehr langen historischen Zeitraum erhalten bleibt, nämlich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang des Sozialismus bzw. der DDR (vgl. 1956, 1965, 1989). Proletarier (wie auch die Kollektivbildung ProletariatWGd) kann damit als eine der zentralen politischen Vokabeln der beiden zurückliegenden Jahrhunderte gelten.
Ein weiteres und ebenfalls sehr langlebiges Charakteristikum des Wortes ist, dass es parallel in einer deutlich positiven und in einer stark abwertenden Lesart auftritt, also in gewissem Sinne zugleich Fahnenwort und Stigmawort ist. Sprachliche Akteure, die in irgendeiner Weise als marxistisch oder sozialistisch zu verorten sind, gebrauchen es als affirmatives, zur Identifikation einladendes und daher deutlich positiv gefasstes Wort (vgl. unter vielen Beispielen 1958). Zu dieser positiven Gebrauchstradition gehört auch, dass Proletarier nicht nur als Opfer, sondern vor allem als starke gesellschaftliche Akteure, ja als Träger einer weltgeschichtlichen Mission dargestellt werden (1933a), die sich durch Tatkraft und Klassensolidarität auszeichnen. Dies kommt auch in dem von Marx und Engels geprägten Slogan Proletarier aller Länder, vereinigt euch! zum Ausdruck (im Manifest der kommunistischen Partei
von 1848a). In etwas abgeschliffener Verwendung steht es dann auch einfach für Arbeiter in einem sozialistischen Staat
(1946).
Auf der anderen Seite der Gebrauchsgeschichte stehen pejorative Verwendungen; das Wort bedeutet hier kultur- und geschmacklose, ungebildete Person
(1876, 1879, 1933b). In dieser abwertenden Lesart tritt bereits im 19. Jahrhundert auch die gekürzte und eher umgangssprachliche Bildung ProletWGd hinzu. Auch zur teils ironisch gefärbten, teils auch klar abwertenden Bezeichnung von Personen des linken politischen Spektrums bzw. eines sozialistischen Staates wird es gelegentlich verwendet (1895). Hier bedeutet es somit Marxist, Kommunist
.
Das Adjektiv proletarisch
Zu der Personenbezeichnung Proletarier wird Ende der 1840er Jahre auch das Adjektiv proletarisch gebildet. Diese Wortbildung bedeutet recht unspezifisch den Proletarier betreffend bzw. typisch für ihn, der Klasse der Proletarier zugehörig
(1907, 2017, 2012). Sie ist schon sehr früh fester Bestandteils des kommunistischen Schrifttums. Dementsprechend finden sich häufig Verbindungen wie die proletarische Bewegung (1848b, 1913), die proletarische Revolution (1848d, 1957) oder die proletarische Partei (1848c, 1863, 1969). Wie das Substantiv Proletarier, kommt auch das Adjektiv im Sinne von geschmacklos, kulturlos, ungehobelt
vor (1910, 2004).
Literatur
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
2Pauly Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred Landfester. Bd. 1–16, Supplementbd. 1–4. Stuttgart 1996–2008 (Online-Ausgabe Brill’s New Pauly). (han.sub.uni-goettingen.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)