Wortgeschichte
Herkunft und ältere Wortgeschichte
Auf den ersten Blick ist die Personenbezeichnung Bürger als -er-Ableitung zum Substantiv Burg zu beschreiben. Historisch gesehen ist dies aber wahrscheinlich nicht die ursprüngliche Bildungsweise. Es gibt vielmehr Indizien dafür, dass es sich zunächst um ein Kompositum der Vorläuferform von Burg mit einem Zweitelement handelt, das etymologisch mit Wehr Verteidigung
zusammenhängt. Die Ausgangsbedeutung des Wortes ist demnach Verteidiger einer Befestigungsanlage
; aus dieser noch im Mittelhochdeutschen belegten Bedeutung hat sich dann per Metonymie Einwohner einer Befestigungsanlage
entwickelt (vgl. AWB 1, 1539, MWB 1, 1 1139, zur Herkunft vgl. Pfeifer unter BürgerDWDS sowie 25Kluge, 163).
Ein wichtiger Schlüssel für die semantischen Entwicklungen des Wortes liegt in der Bedeutung des Erstglieds Burg. In älterer Zeit steht dieses nicht allein für Burg
im heutigen Verständnis, sondern allgemein für eine befestigte Ansiedlung
. Das Wort kann sich demnach sowohl auf einen befestigten Herrensitz als auch eine Stadt oder Siedlung mit Verteidigungsanlage beziehen. Das Bindeglied zu den späteren Bedeutungen liegt dann in der Verwendung Einwohner einer Stadt
, während die Lesart Bewohner einer Burg
sprachhistorisch folgenlos bleibt.
Bedeutungsverengung: Stadtbewohner und Patrizier
Mit dem Wohnen in einer Stadt sind seit dem Hochmittelalter auch bestimmte Rechte verbunden, die in Städteverfassungen kodifiziert werden. Bürger (bzw. mittelhochdeutsch burgære) bezeichnet damit nicht nur den Stadtbewohner, sondern ein freies, vollberechtigtes Mitglied einer Stadtgemeinde. Das Wort Bürger erhält hier erstmals wichtige rechtliche Implikationen.1) Mit der Lesart Stadtbewohner
werden auch die lexikalischen Gegensätze Bürger vs. Bauer und Bürger vs. Adliger etabliert (vgl. für das Mittel- und Frühneuhochdeutsche DRW 2, 592 sowie ferner 1605, 1663).
Von der Bedeutung Stadtbewohner, Mitglied einer Stadtgemeinde
ausgehend entwickelt sich das Wort dann in mehrere Richtungen weiter. So ist bereits im 13. Jahrhundert eine Spezialisierung auf Angehöriger des Patrizierstandes, Ratsmitglied
zu greifen (s. dazu 2DWB 5, 1015). Im Zuge dieser Bedeutungsverengung wird eine besonders prominente und privilegierte Gruppe aus der Gesamtheit der Stadtbewohner – gewissermaßen der Prototyp des Städters schlechthin – herausgegriffen und mit dem Ganzen gleichgesetzt (für einschlägige Belege vgl. DRW 2, 592).
Vom Stadtbewohner zum Staatsbürger
Die Bedeutung Einwohner einer Stadt, Mitglied einer Stadtgemeinde
ist aber wohl auch Ausgangspunkt für eine weitere semantische Neuerung, nämlich für die Herausbildung der Bedeutungen Einwohner eines Landes
und später auch Staatsbürger
. Zwar finden sich im 17. Jahrhundert noch Belege, in denen Bürger als klar unterscheidbare Gruppe von Städtern innerhalb der Einwohnerschaft eines Landes beschrieben werden (1639); gleichwohl ist spätestens ab 1660 auch die Lesart Einwohner eines Landes
bezeugt (1668, 1691). Letztlich liegt dieser semantischen Innovation wohl eine Metonymie zugrunde, in deren Zug eine prominente Teilgruppe – die Einwohner einer Stadt – mit der gesamten Einwohnerschaft eines Landes identifiziert werden.
Dass die Bedeutung Einwohner eines Landes, Staatsbürger
in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts etabliert ist, wird auch durch Übertragungen wie ein Bürger dieser Welt bzw. Erde indirekt bezeugt (vgl. 1679, 1704): Welt bzw. Erde sind hier als Länder
zu fassen, denen man im bildlichen Sinn zugehören kann (dementsprechend auch Weltbürger). In der Lesart Staatsbürger
ist Bürger vor allem in der Zeit der Französischen Revolution mit stark positiven Konnotationen verbunden: Bürger ist hier zu einem Fahnenwort geworden, dessen Gebrauch eine Identifikation mit der Revolution bzw. der Republik signalisiert; es wird sogar als eine sämtliche Standesunterschiede nivellierende Anrede gebraucht, so dass es statt Herr/Frau N. o. ä. nunmehr Bürger/Bürgerin N. heißt (vgl. 1791, 1797). Diese Verwendung lehnt sich naheliegenderweise eng an das Vorbild von französisch citoyen an (vgl. TLFi unter citoyen). Der Bürger als Staatsbürger
wird aber auch später noch und auch in anderen Zusammenhängen oft positiv konnotiert. Dies gilt vor allem für die Idealgestalt des mündigen Bürgers, der selbstbewusst und kritisch am politisch-gesellschaftlichen Leben teilnimmt (1907a, 1997, 2017).
Das Kompositum Staatsbürger, das um 1780 zuerst in juristischen Texten belegt ist (vgl. 1779), stellt eine verdeutlichende Wortbildung zu genau dieser Bedeutung von Bürger dar. Angesichts der Vielzahl der im 18. Jahrhundert konkurrierenden Lesarten des Wortes Bürger kann dieses in gewissem Sinne als semantisch überladen gelten, so dass das Kompositum Staatsbürger hier für die nötige Abgrenzung sorgen kann. Staatsbürgerin ist ebenfalls seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert belegt, zunächst mit Bezug auf Verhältnisse der Antike (1798) und die Französische Republik der Revolutionszeit (1854) sowie später dann im Kontext der Frauenbewegung.
Bürger und Bourgeois in den Klassenkämpfen des Industriezeitalters
Anknüpfend an die ältere Bedeutung Patrizier
und sicherlich auch unter Einfluss von französisch bourgeois wird Bürger im 19. Jahrhundert zu einer Standesbezeichnung, die diesen nicht so sehr – wie noch lange üblich – vom Bauern bzw. Adligen, sondern vor allem vom Arbeiter und ProletarierWGd abhebt. Bürger und Arbeiter treten nun deutlich als Vertreter unterschiedlicher Klassen in Erscheinung (1845). Bürger in diesem Sinne sind nun Angehörige der besitzenden Gesellschaftsschicht, die damit von den besitzlosen Proletariern bzw. Arbeitern abgegrenzt sind (1920).
Gleichwohl entwickelt sich das Wort in dieser Bedeutung nie zum politischen Schlagwort. So ist in Textzeugnissen aus der Zeit der sogenannten bürgerlichen
RevolutionWGd von 1848/49 häufig die Rede davon, dass große Teile des Bürgertums durchaus nicht gegen, sondern gemeinsam mit der Arbeiterschaft gegen feudale Verhältnisse kämpfen (vgl. 1848c, 1848a). Auch noch im Sprachgebrauch der DDR finden sich zahlreiche Verbindungen, in denen gerade kein Gegensatz etabliert wird (wie 1961). Einer negativen Aufladung steht wohl vor allem die seit langem etablierte Bedeutung Staatsbürger
entgegen (vgl. 1968).
Auch für Bürger als Bezeichnung einer Klasse besteht angesichts des breiten semantischen Spektrums, das dieses Wort hat, offenbar das Bedürfnis nach Differenzierung und Verdeutlichung (dieses Bedürfnis illustriert ein Beleg von 1848b). Da Bürger kaum zum Stigmawort taugt, wird von Schriftstellern, die dem Sozialismus zuzurechnen sind, häufig auch das Lehnwort BourgeoisWGd verwendet, wenn es um eine deutliche Kenntlichmachung des Klassenfeindes geht.
Bürger als Sozialfigur
Seit dem 19. Jahrhundert ist auch ein Stereotyp des Bürgers im Umlauf, das diesem bestimmte Eigenschaften zuschreibt: Ein Bürger ist auch im Hinblick auf seinen ästhetischen Geschmack eher konservativ, er ist wenig innovativ, eher prüde, brav, unbescholten oder auch saturiert (1900, 1907b, 1928, 1951, 1988, 2001). Die mit dem Bürger als Sozialfigur assoziierten Eigenschaften kommen dann in verschiedenen Verwendungen des Adjektivs bürgerlichWGd zum Tragen.
Das Femininum
Die movierte Form Bürgerin, die seit dem Mittelhochdeutschen belegt ist, zeigt die geschilderten Bedeutungsübergänge weitgehend in übereinstimmender Folge: Das Wort bedeutet somit in älterer Zeit zuerst Burgbewohnerin
, von dort ausgehend Einwohnerin einer Stadt
(die freilich z. B. üblicherweise nicht in der Ratsversammlung vertreten ist) sowie Angehörige des Patrizierstandes
(dazu MWB unter burgærinne sowie DRW 2, 598; vgl. auch 1579). In der Bedeutung Staatsbürgerin
kommt das Femininum seit dem 18. Jahrhundert auf (1801, 1903).
Ebenso wie Bürger tritt auch Bürgerin Staatsbürgerin
als Fahnenwort der Französischen Revolution und der Republik in Erscheinung (vgl. 1797). Um 1900 spielt die Diskussion um das Frauenwahlrecht eine besondere Rolle, durch welches Frauen erst vollständig die staatsbürgerlichen Rechte erlangen (als Beleg für die Debatte vgl. 1911). In der Bedeutung Angehörige der besitzenden Klasse
, die für das maskuline Pendant seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geläufig ist, wird Bürgerin nur selten verwendet; die sozialistische Publizistik zielt hier offenbar ganz auf die männlichen Standesvertreter als Gegenspieler des Proletariats.
Im 18. Jahrhundert tritt auch Bürger(s)frau als Bezeichnung für weibliche Angehörige des Bürgerstandes hinzu, hier in erster Linie aber wohl als Ehefrau eines Bürgers
, weniger als eigenständig agierende Person bürgerlichen Standes aufgefasst (1743).
Anmerkungen
1) Zu dieser Bedeutungsentwicklung und zur Bedeutung des mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen Wortes überhaupt vgl. Schmidt-Wiegand 1980, 107–109.
Literatur
AWB Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1 ff. Berlin 1968 ff. (saw-leipzig.de)
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
MWB Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftr. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Hrsg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann. Bd. 1ff. Stuttgart 2006 ff. (mhdwb-online.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Schmidt-Wiegand 1980 Schmidt-Wiegand, Ruth: Burgensis/Bürger. Zur Geschichte von Wort und Begriff nach Quellen des ostmitteldeutschen Raums. In: Josef Fleckenstein/Karl Stackmann (Hrsg.): Über Bürger, Stadt und städtische Literatur. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1975–1977. Göttingen 1980, S. 106–126.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Bürger, Bürgerin, Staatsbürger, Staatsbürgerin.