Wortgeschichte
Protestler: Frühe Bezeugungen in Religionskontexten
Das Substantiv Protestler ist im Deutschen erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugt (1849). In frühen Bezeugungen zwischen Ende der 1840er und Beginn der 1870er Jahre begegnet das Wort überwiegend in religiösen Kontexten (1849, 1865, 1871a, 1871b). Das lässt Rückschlüsse auf eine semantische Nähe zu den älteren Wörtern ProtestantWGd, das im Verlauf des 16. Jahrhunderts von ProtestationWGd abgeleitet wird, sowie das zu dieser Zeit noch synonym zu ProtestantWGd verwendete ProtestierendeWGd zu. Gleichzeitig ist deutlich, dass Protestler anders als die Vorgänger nicht im engeren Sinn Christen evangelischer Konfession bezeichnet. Zwar begegnet es auch in Zusammenhang zu dieser (1871a), daneben aber auch in Bezug auf etwa Anhänger der altkatholischen Kirche:
Ja einzelne Protestler wollten gar die Beichte, Verehrung der Heiligen, Ehelosigkeit des geistlichen Standes u. s. w. abschaffen, gerade so wie Ronge, der an dem berüchtigten Congreß Theim genommen. […] Mögen sich daher die Neuprotestanten noch so viel mit dem Namen altkatholisch oder selbst katholisch brüsten, sie sind nicht die alten Katholiken mehr, die sie früher waren, die unter Pabst und Bischöfen standen und im Pabst das Oberhaupt, den Vater, den höchsten Lehrer der Christenheit verehrten; sie sind jetzt Neukatholiken oder vielmehr Neuprotestanten, da sie gegen Pabst und Bischöfe, gegen die Beschlüsse einer allgemeinen Kirchen-Versammlung so protestieren, wie einstmals die Protestanten. [1871b]
Obwohl Protestler hier also nicht Protestanten
bezeichnet, wird doch auch deutlich, dass das Wort gerade in Anlehnung an Protestantismus, Protestation und Protestanten verwendet wird: Ein Protestler ist jemand, der gegen seine Kirche protestiert. Deutlich wird zudem, dass aus dem Beleg eine Abwertung spricht. Das ist insofern nicht überraschend, als das Wortbildungsmuster mit dem Suffix -ler tendenziell durch eine Neigung zu pejorativen Konnotationen beeinflusst ist (vgl.
Fleischer/Barz 2012, 207).
Gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass die Ableitungsgrundlage für Protestler vermutlich nicht – wie im 16. Jahrhundert für Protestant – Protestation ist. Jedenfalls lassen die frühen Bezeugungen von Protestler keine Rückschlüsse auf eine förmliche oder gar schriftlich eingereichte Protestation erkennen. Auch ist das Wort Protestation bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Verbreitung deutlich rückläufig, wohingegen die Verwendungsfrequenz von ProtestWGd deutlich steigt (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Protestler auf der Ableitungsgrundlage Protest in einer gegenüber Protestation weiter gefassten Bedeutung Verwahrung, Einspruch, Bekundung des Missfallens
, wie sie sich um 1800 ausbildet, modelliert wird.
Die Protestler der elsass-lothringischen Protestpartei (und Nordschleswigs)
Ab Mitte der 1870er Jahre begegnet Protestler mit einer neuen Bedeutung und in neuen Kontexten: Nunmehr bezeichnet das Wort elsass-lothringische Reichstagsabgeordnete der Protestbewegung bzw. Protestpartei (vgl. zur elsass-lothringischen Protestpartei bzw. Protestpartei auch Huber 1982, 446–447 sowie Preibusch 2006, 88–92 und 127–132) bzw. solche, die die Annexion Elsass-Lothringens ablehnten (1874, 1895, 1901, 1910, 1966). Relevanz für die weitere wortgeschichtliche Verbreitung hat wohl die Abgabe einer Protesterklärung mit der Forderung einer nachträglichen Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Elsass-Lothringens nach der ersten Reichstagswahl in Elsass-Lothringen 1874 (vgl.
Huber 1982, 449–450). Frühe Bezeugungen des Wortes Protestler in diesem Kontext lassen jedenfalls die Annahme zu, dass die Wortbildung in Zusammenhang mit diesem Ereignis zu verstehen ist (1874). Die Ursprünge der Protestbewegung selbst reichen dahingegen bis zum Jahr 1871 zurück (vgl.
Hiery 1986, 144 unter Rekurs auf eine Korrespondenz zwischen Léon Gambetta und August Schneegans im Oktober 1871). Die Wortbildung hat mit députés protestataires eine französische Entsprechung (vgl. auch die Informationen zu Les députés protestataires d’Alsace-Lorraine
auf der Seite der französischen Assemblée nationale).
Ausgehend von dieser zunächst eher eng gefassten Bedeutung begegnet Protestler gegen Ende des Jahrhunderts gelegentlich auch in Zusammenhang mit anderen Grenzgebieten des Deutschen Reichs wie insbesondere Nordschleswig (1888, 1898, 1902).
Die 68er und Protestler als Demonstranten
Neben den Bezeugungen in religiösen Kontexten stehen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelt, dann mit zunehmender Tendenz auch solche mit weiter gefasster Bedeutung oder in anderen Kontexten (1866, 1909, 1915, 1929). Protestler scheint hier recht allgemein jemand, der gegen etwas (öffentlich) Einspruch erhebt
zu bedeuten. Es ist dies wohl zugleich die Voraussetzung für eine neuerliche semantische Entwicklung der 1960er und 1970er Jahre: Protestler begegnet nun zunehmend im Kontext der 68er-Bewegung (1967a, 1967b, 1967c, 1970; s. a.
68erWGd) und bezeichnet nunmehr spezifischer und oft abwertend (1968) Anhänger der Alternativbewegungen, der gegen etwas oder jemanden öffentlich protestiert
.
Dabei entstehen auch neue semantische Relationen: So begegnet das Wort nun zusammen mit anderen Sozialfiguren der Zeit wie etwa HippiesWGd (1970) oder GammlerWGd (1968, 1981). Protestler ist nun zudem im Gegensatz zu EstablishmentWGd zu verstehen (1971). Nicht zuletzt kann Protestler nun auch semantische Überschneidungen mit DemonstrantWGd haben (1969, 1982, 2017b), wobei Protestler aber nicht selten Konnotationen des Gewalttätigen hat (2013, 2017a, 2017c).
Literatur
Assemblée nationale 2021 [Assemblée nationale:] Les députés protestataires d’Alsace-Lorraine. (assemblee-nationale.fr)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Hiery 1986 Hiery, Hermann Joseph: Reichstagswahlen im Reichsland: ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsaß-Lothringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871–1918. Düsseldorf 1986.
Huber 1982 Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. Zweite verbesserte und ergänzte Aufl. Stuttgart 1982.
Preibusch 2006 Preibusch, Sophie Charlotte: Verfassungsentwicklungen im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1918: Integration durch Verfassungsrecht? Berlin 2006.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Protestler.