Wortgeschichte
Herkunft und frühe Bedeutung
Die Vorläufer des neuhochdeutschen Wortes Geschlecht sind althochdeutsch gislahti sowie mittelhochdeutsch gesleht(e), beides Präfixbildungen zu althochdeutsch slaht, slahta, slehti sowie mittelhochdeutsch slaht(e). Sowohl die ge-Ableitung als auch das nicht abgeleitete Substantiv bedeuten gleichermaßen Geschlecht, Stamm, Abkunft, Familie, Gattung
(vgl. DWDS unter GeschlechtDWDS). Sie sind verwandt mit dem Verb schlagen (althochdeutsch slahan, Bedeutung u. a. jemandem nacharten
) in der Lesart sich in einer bestimmten Richtung entwickeln, nach jemandem geraten, jemandes Art haben, nacharten
, was sich in den Redewendungen jemand schlägt nach jemandem, jemand ist aus der Art geschlagen oder in dem Kompositum Menschenschlag bis in die Gegenwartssprache zeigt.
Verwandte und nicht verwandte Personengruppen
Die bereits im Althochdeutschen belegte Bedeutung Stamm
, Familie
setzt sich über das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bis in die Gegenwartssprache fort (vgl. MWB Bd. 2, Sp. 574, FWB-online unter geschlecht; 1558b, 1766a, 1948). Etwa seit dem 16. Jahrhundert findet man das Wort auch häufig zur Bezeichnung einer z. B. alteingesessenen, berühmten oder ähnlich bezeichneten Familie (1589, 1614, 1730, 1855). Jünger wird diese Bedeutung insbesondere verwendet, um die Herkunft einer Person darzulegen (1954, 2000).
Im Mittelhochdeutschen wird das Bedeutungsspektrum zudem durch die Bedeutung Generation, Glied in der Geschlechterfolge
(s. auch GenerationWGd) erweitert, die bis ins 20. Jahrhundert belegt ist (vgl. MWB Bd. 2, Sp. 575, 1521, 1635, 1902a).
Auch eine Personengruppe
, die nicht durch Verwandtschaft, sondern durch bestimmte Eigenschaften, gleiche Interessen oder gemeinsame Tätigkeit
miteinander verbunden ist (s. auch GenerationWGd), wird seit dem Althochdeutschen als Geschlecht bezeichnet (vgl. 1DWB 5, 3903; 1435, 1558c, 1653b, 1767; 1902b). Im frühen 16. Jahrhundert kann das Wort in dieser Bedeutung noch weiter gefasst sein und für Volk, Volksstamm
stehen (1509, 1627, 1627; vgl. auch FWB-online unter geschlecht). Häufig findet man es in der Verbindung menschliches Geschlecht, womit die Gesamtheit aller Menschen, Menschengeschlecht
gemeint ist (1558a, 1766b).
Abb. 1: Wortverlaufskurven „das andere Geschlecht“ und „das zweite Geschlecht“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
In Kombination mit dem Attribut männlich oder weiblich bezeichnet Geschlecht auch die gesamte Gruppe
des jeweiligen Geschlechts: alle Männer
bzw. alle Frauen
innerhalb des Menschengeschlechts (1594, 1617, 1887). Eine sehr häufige Wortverbindung ist seit etwa Ende des 17. Jahrhunderts das andere Geschlecht (1692, 1701), meist in der Bedeutung alle Frauen
(1746). Die gleichbedeutende Wortfolge das zweite Geschlecht (1785) ist nur vereinzelt belegt und kann sich im Deutschen nicht etablieren (vgl. Abb. 1).
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Das andere Geschlecht
Im Jahr 1949 erscheint Le Deuxième Sexe von Simone de Beauvoir, das zwei Jahre später in deutscher Übersetzung mit dem Titel Das andere Geschlecht auf den Markt kommt (vgl. den entsprechenden Eintrag bei Wikipedia). Vermutlich weil die Wortverbindung das zweite Geschlecht im Deutschen weniger geläufig blieb, bevorzugt die Übersetzerin den Titel Das andere Geschlecht.
Gegenwartssprachlich verlieren sich die Bedeutungen Generation
und nicht verwandte Personengruppe
wieder. In der Gegenüberstellung sieht es so aus, als würde das Wort GenerationWGd diese Lesarten bis zur Gegenwartssprache übernehmen. So bezeichnet es seit dem 17. Jahrhundert einzelne Stufe in der Geschlechterfolge
, seit dem 19. Jahrhundert mehrt sich die Zahl der Zusammensetzungen mit der Bedeutung durch gleiches Alter, gemeinsame Interessen oder Erfahrungen, ähnliches Verhalten usw. miteinander verbundene größere Menschengruppe
. Das Wort Menschengeschlecht kommt zwischen 1750 und 1850 ins Spiel und verdrängt möglicherweise die Bedeutung Gesamtheit aller Menschen
aus dem Spektrum von Geschlecht. Menschengeschlecht wird seinerseits dann offenbar von Menschheit abgelöst. Seit dem 17. Jahrhundert etabliert sich außerdem das Kompositum Geschlechterfolge mit Lesarten des Wortes Geschlecht. Gegenwartssprachlich ist es allerdings kaum noch gebräuchlich.
Geschlechtsidentität: Sex und Gender
Das Wort Geschlecht hat seit dem Mittelalter auch eine klassifikatorische Bedeutung zur Unterscheidung von männlich und weiblich
(EdN unter Geschlecht und MWB Bd. 2, Sp. 574). Dabei kann es im Deutschen bis in die Gegenwartssprache sowohl das biologische (Sex
; vgl. DWDS unter Sex2DWDS) als auch das soziale Geschlecht (Gender
; vgl. DWDS unter GenderDWDS) bedeuten, was jedoch häufig nicht klar abzugrenzen ist (1683, 1703, 1905, 1986a). Seit Ende des 20. Jahrhunderts wird daneben zunehmend das englische gender gebraucht. Man findet es zunächst in soziologischen Fachtexten oder in englischen Wortverbindungen, seit den 90er Jahren wird das Wort auch im allgemeinen Sprachgebrauch geläufiger (1986b, 1990, 2003; vgl. auch unten).
Kurzform für Geschlechtsteil
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird Geschlecht auch als Kurzform für Geschlechtsteil genutzt (1903, 1979), frühere Belege deuten diesen Verwendungstyp bereits an, bewegen sich aber noch zwischen den Bedeutungen Sexus
und Geschlechtsteil
(1852b, 1876). Nach 10Paul ist das Wort Geschlechtsteil eine Lehnübersetzung von lateinisch pars genitālis (s. 10Paul, 402 und 1721).
Grammatische Kategorie: Genus
An das natürliche Geschlecht knüpft das grammatische an
– so liest man in einer älteren Ausgabe des Deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul aus dem Jahr 1935 (4Paul, 205). Seit etwa 1400 bezeichnet das Wort Geschlecht auch eine grammatische Kategorie zur Klassifizierung von Substantiven. Als Fachterminus für das grammatische Ordnungssystem des Deutschen mit einem männlichen, weiblichen und sächlichen Geschlecht (Maskulinum, Femininum, Neutrum), ist neben Geschlecht auch das aus dem Lateinischen entlehnte Genus (vgl. Pfeifer unter GenusDWDS) gebräuchlich (1764, 2020).
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Erst Genus, dann Gender
Genus ist neben Geschlecht ein sprachwissenschaftlicher Terminus zur Klassifizierung von Substantiven. Das Wort geht zurück auf lateinisch genus mit der Bedeutung Abstammung, Geschlecht, Gattung, Art und Weise
. Es wird im 17. Jahrhundert aus der lateinischen Wissenschaftssprache in deutsche Texte übernommen (vgl. DWDS unter GenusDWDS; 1653a).
Vor der Übernahme des englischen Wortes gender in die deutsche Sprache dient Genus – gewissermaßen als Vorläufer – auch als Bezeichnung für das soziale Geschlecht im Unterschied zum biologischen Geschlecht (1995, vgl. auch oben).
Wortbildungsgeschichte
In der großen Zahl der Komposita mit Geschlecht als Erstglied fällt auf, dass die Zusammensetzungen sowohl mit -er als auch mit -s-Fuge gebildet werden können. Hier liegt häufig eine vom Bestimmungswort abhängige semantische Differenzierung zugrunde: Wenn Geschlecht die Bedeutung
(Deutsche Wortbildung 1991, 101).Sexus
hat (Geschlechtsart, Geschlechtsbestimmung, Geschlechtsleben), steht immer die -s-Fuge, wo es dagegen im Sinne von Generation gebraucht wird, findet sich neben Formen mit -s- (Geschlechtsname) oft die -er-Fuge: Geschlechterfolge, Geschlechterkunde usw.
Erste Bildungen mit Geschlecht findet man bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts, beispielsweise Geschlechtsregister, zunächst noch in der Getrenntschreibung (1648, 1727), Geschlechterhäuser (1650) oder Geschlecht-Art (1679). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird das Wort deutlich produktiver, die Zahl der Komposita nimmt im Laufe des Jahrhunderts in nennenswertem Umfang zu, darunter: Geschlechterordnung (auf Pflanzen bezogen 1848; dann 1854b, 1865a), Geschlechterstaat (1852a), Geschlechterverfassung (1854a, 1875), Geschlechterrecht (1864, 1865b), Geschlechterfrage (1896) sowie Geschlechterfolge und Geschlechterturm. Häufige Belege der jüngeren Zeit sind beispielsweise: Geschlechterdebatte (1999), Geschlechterkampf (1907), Geschlechterrolle (1957), Geschlechterforschung (1939), Geschlechtervielfalt (2008).
Literatur
Deutsche Wortbildung 1991 Lorelies Ortner u. a.: Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Hauptteil 4: Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen 1). Düsseldorf 1991.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
FWB-online Frühneuhochdeutsches Wörterbuch/FWB-online. Hrsg. von Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann, Oskar Reichmann. 2017 ff. (fwb-online.de)
MWB Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftr. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Hrsg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann. Bd. 1ff. Stuttgart 2006 ff. (mhdwb-online.de)
4Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Karl Euling. 4. Aufl. Halle/Saale 1935.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Geschlecht, Gender, Genus, das andere Geschlecht.