Wortgeschichte
Lieschen als Vorname
Liese bzw. die Koseform Lieschen (zu Elisabeth) war bis weit in die Nachkriegszeit hinein ein weit verbreiteter weiblicher Vorname, mit dem eine eher einfache soziale Herkunft assoziiert ist; dementsprechend galt der Name als wenig extravagant (im Beleg 1950 ist von der Prosa
dieses Namens die Rede). Aufgrund seiner weiten Verbreitung kann Liese auch allgemein für weibliche Person
stehen, vor allem allerdings in abwertenden Bezeichnungen wie Bummelliese oder dumme Liese (dazu s. 1DWB 12, 1020 unter Liese); es wird also appellativisch, d. h. als Gattungsbezeichnung, gebraucht. In der Verbindung mit dem häufigen Nachnamen Müller kann Lieschen dann naheliegenderweise für eine durchschnittliche weibliche Person
stehen, wobei die tendenziell negative Konnotation von Liese auch in der Verbindung durchscheint: Lieschen Müller wird nicht selten als ein wenig naiv und eher ungebildet dargestellt (vgl. 1951a, 1951b, 1955c).
Zur Frage des Bezeugungsbeginns
Dieser appellativische Gebrauch der fiktiven Namenskombination ist seit den 1950er Jahren breit bezeugt, gelegentlich auch in Verbindung mit ihrem männlichen Pendant Otto NormalverbraucherWGd (1951a). In den Belegen ab 1950 wird Lieschen Müller freilich schon mit Attributen wie das berühmte
, das viel zitierte
versehen (1951b, 1955a). Das ist als Hinweis darauf zu werten, dass die appellativische Verwendung der Namensverbindung älter ist. In der Tat ist mit einem Beleg von (1932), in dem von einer Prinzessin die Rede ist, die sich wie irgend ein Lieschen Müller
verhält, eine (bislang isolierte) frühe Bezeugung dieser Verwendung greifbar.
Älteren Datums ist ein Lieschen Müller als Nebenfigur im Roman Der einsame Mann (1925) der seinerzeit viel gelesenen naturalistischen Schriftstellerin Clara Viebig. Die Figur wird in dem Roman zwar als langweilig und anspruchslos geschildert; ob hierin ein möglicher Ursprung dieser Verbindung zu sehen ist oder ob sich hier vielleicht ein schon länger bestehender Sprachgebrauch niederschlägt, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit feststellen.
Lieschen Müller als weiblicher Durchschnitt
Aufschlussreich ist, in welcher Hinsicht Lieschen Müller seit den 1950er Jahren als typische Repräsentantin des weiblichen Geschlechts bestimmt wird: Sie tritt gelegentlich als Haushälterin oder auch als Aktionärin, vor allem aber als Konsumentin von eher anspruchslosen Produkten der Kulturindustrie – Film, Schlager, Unterhaltungsliteratur – in Erscheinung (1951b, 1955c, 1955b, 1960, 1997). In vielen Belegen ist, wie schon erwähnt, auch eine abwertende Note deutlich erkennbar: Lieschen Müller stellt sich komplexe Zusammenhänge typischerweise sehr einfach vor (1957, 1996). Es ist daher ein gewisser Erklärungsaufwand und eine starke Vereinfachung nötig, damit auch Lieschen Müller [es] versteht
(2001, s. auch 1951b).
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
NDB Neue Deutsche Biographie. Bd. 1ff. Berlin 1953ff. (deutsche-biographie.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Lieschen Müller.