Wortgeschichte
Vom Platzhalternamen zur Wortverbindung
Die fiktive Namensverbindung Erika Mustermann tritt zunächst 1983 im Bundesgesetzblatt auf, und zwar als Platzhaltername in Ausweisdokumenten. Dem dort abgebildeten Ausweismuster ging der Entwurf einer Passkarte
– mit dem auffälligen Rechtschreibfehler Federal Republik
– voraus (s. Abb. 1). Ihn zierte noch das Porträt einer fiktiven Renate Mustermann. Er dürfte, folgt man dem aufgedruckten Ausstellungsdatum, aus dem Jahr 1978 stammen.

Abb. 1: Entwurf einer „Passkarte“ von 1978 (?); Erstbeleg für die Verwendung von „Mustermann“ in einem Passdokument
Wikimedia Commons (wikimedia.org) | gemeinfrei (§ 5 Abs. 2 UrhG)
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Ein Muster mit Mustermann: Die Einführung neuer Personalausweise
Die Passkarte
mit dem Platzhalternamen Renate Mustermann wird höchstwahrscheinlich im Zuge eines Gesetzgebungsprozesses zur Einführung neuer, fälschungssicherer Personalausweise entstanden sein (vgl. das Plenarprotokoll des Deutschen Bundestags vom 20. 9. 1979, 1. Lesung zur Änderung des Personalausweisgesetzes, 13638–13643). Dieses Vorhaben, neue Ausweisdokumente für alle Bürger der Bundesrepublik Deutschland einzuführen, muss vor dem Hintergrund des Deutschen Herbsts
1) 1977 und der ihm vorausgehenden, linksterroristischen Anschläge und Entführungen gesehen werden, waren die sich im Untergrund bewegenden Terroristen doch nicht zuletzt auf gefälschte Passdokumente angewiesen. Auf die historischen Ereignisse wird tatsächlich – in begründender Absicht – in der ersten Bundestagsdebatte zur Novelle des Ausweisgesetzes im September 1979 wiederholt Bezug genommen, unter anderem durch die explizite Erwähnung der Roten Armee Fraktion (Plenarprotokoll, 1. Lesung, 13641).
Angeregt wurde die Einführung eines neuen Ausweisformats bereits im Sommer 1977 durch die Innenministerkonferenz, woraufhin die Bundesregierung im darauffolgenden Jahr ein Gesetzgebungsverfahren auf den Weg brachte (Plenarprotokoll, 1. Lesung, 13639). Das Vorhaben führte zwar Anfang 1980 zu einer Novelle des Ausweisgesetzes, seine Ausführung verlief jedoch zunächst im Sande, weil über die Finanzierung des millionenschweren Projekts keine Einigung erzielt werden konnte.2) Die oben erwähnte Verordnung, in deren Folge tatsächlich Ausweise in einem neuen Format ausgegeben wurden, erließ man erst 1983. In ihrer Anlage findet sich jenes Muster des Personalausweises
, in dem erstmals der Name Erika Mustermann zu lesen ist.
An der Bundestagsdebatte von 1979 fällt auf, dass die Redner der verschiedenen Fraktionen immer wieder das Wort Muster verwenden, um das diskutierte Passformat zu beschreiben. Die vorgeschlagenen Dokumente hätten ein Muster nicht in Buchform
, sie wichen von dem bisherigen Muster in Buchform
ab, seien ein fälschungssichere[s] Muster
, man spricht von der neuen Ausweisform, dem neuen Ausweismuster
(letzteres mehrfach), von einem Muster, das die Bundesregierung vorgesehen hat
. Die bemerkenswerte Häufung geht gewiss auf die Wortwahl im eingebrachten Gesetzentwurf zurück, in dem es heißt, das Muster der Ausweise
werde vom Bundesinnenminister bestimmt. In der angehängten Gesetzesbegründung werden die neuen Ausweisdokumente dann insgesamt neunmal als Muster
oder Ausweismuster
adressiert. Die Formulierung hat sich in der verabschiedeten Fassung des Gesetzes von 1980 erhalten, wo nach wie vor vom Muster der Ausweise
die Rede ist, und wurde auch von der Presse aufgegriffen (1981).3)
Ein Blick auf die im DWDS-Kernkorpus zu findenden Belege aus den 1970er Jahren zeigt, dass Muster dort in der überwiegenden Anzahl der Fälle auf Abstrakta wie Organisationen, Institutionen, Entwicklungen, mathematisch darstellbare Strukturen und Regeln bezogen wird (1970, 1971b, 1973, 1971a, 1979a). Hier von Interesse sind freilich die wenigen Belege, in denen Muster in einem rechtlichen Kontext auftaucht. In ihnen hat das Wort nämlich die Bedeutung sich formal wiederholende Ausführungsweise
, ist mithin auf Konkreta gemünzt (amtlicher Zollverschluss von Transitgütern: 1971c; Form von Passdokumenten: 1979b u. ergänzend natürlich 1981 mit dem Abdruck von Abb. 1). Ist in den erwähnten Belegen in einem rechtlichen Zusammenhang von einem Muster die Rede, wird somit die physische Form und nicht die juristische Funktion von etwas thematisiert. Dass eine formale, beispielhafte Ausführung der neuen Personalausweise auf eine Renate bzw. Erika Mustermann ausgestellt wurde, erscheint so als Übertragung eines sehr konsistenten und differenzierten Sprachgebrauchs aus dem juristischen Feld auf einen konkreten Anwendungsfall.
Darüber hinaus gilt es, die historischen Umstände, in denen Mustermann zum Platzhalternamen in Passdokumenten wurde, nicht zu übersehen. Besonders die Wortmeldungen in den Bundestagsdebatten von 1979 legen nahe, dass man mit der Einführung neuer Personalausweise ein Dokument für Mustermänner
in der damals freilich schon obsoleten Bedeutung mustergültige Person
einzuführen gedachte. Darum beklagte sich auch einer der Abgeordneten in der 2. u. 3. Lesung des Gesetzes vom 17. 1. 1980, dass in der aktuellen Bundestagsdebatte die datenschutzrechtlichen Aspekte im Vordergrund stünden. Dies überrascht nicht, weil vielen die sicherheitspolitischen Zusammenhänge ferner gerückt sind, als dies noch vor zwei Jahren [d. i. kurz nach dem
Man müsse aber auch auf Deutschen Herbst
1977] der Fall war.den sicherheitspolitischen Ausgangspunkt dieses Gesetzes
hinweisen. (Plenarprotokoll, 2. u. 3. Lesung, 15664) Was hier nur anklingt, wird in der 1. Lesung deutlicher formuliert: Man beschloss ein Muster einzuführen, das explizit gegen Terroristen und Schwerkriminelle
gerichtet war, die ihr eigenes Paßamt
betrieben (Plenarprotokoll, 1. Lesung, 13641).
Unmittelbar nach Einführung der fiktiven Namenskombination Erika Mustermann finden sich auch schon spielerische Verlebendigungen, in denen aus ihr eine fiktive Figur mit Lebenshintergrund und eigener Geschichte gemacht wird (vgl. 1983). Von hier aus entwickelt sich die Bezeichnung dann zu einem weiteren Ausdruck für eine Durchschnittsbürgerin
, die neben das ältere Lieschen MüllerWGd tritt (vgl. 1997). Im Gegensatz zu diesem ist aber keine abwertende Konnotation erkennbar.
Als Analogiebildung zu Erika Mustermann kommt dann der fiktive Name Max Mustermann hinzu. Zunächst wird die Verbindung ebenfalls als Platzhaltername verwendet (1995), ab den späten 1990er Jahren finden sich dann auch Belege für einen Übergang zu einer weiteren Bezeichnung für (männlichen) Durchschnittsbürger
(1998) neben Otto NormalverbraucherWGd.
Zur Vorgeschichte: der Mustermann
Das für den Platzhalternamen als fiktiver Nachname genutzte Wort Mustermann selbst hat eine bis mindestens in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Vorgeschichte. Es bedeutet zunächst nicht durchschnittlicher Repräsentant (einer Gruppe)
, sondern vielmehr mustergültige, in bestimmter Hinsicht vorbildliche Person
(1838, vgl. auch 1963). Freilich gibt es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelte Belege dafür, dass Mustermann sich schon frühzeitig in Richtung auf durchschnittlicher Repräsentant (einer Gruppe)
entwickelt hat (so im Beleg 1873, in dem von einem abstracte[n] Mustermann
im Gegensatz zu einem realen Individuum die Rede ist; vgl. auch 1967). Die fiktive Namenskombinationen Erika Mustermann bzw. Max Mustermann schließen damit schon an einen älteren Vorläufer an.
Insgesamt zeigt die Geschichte dieser Verbindung einen auffälligen Wechsel zwischen Wort und Name: Zuerst wird das Wort Mustermann als fiktiver Name verwendet, dieser wiederum als Wort bzw. als Bestandteil eines komplexen lexikalischen Ausdrucks verstanden und damit appellativisch gebraucht.
Anmerkungen
1) Die Bezeichnung Deutscher Herbst
für die (Flugzeug-)Entführungen sowie (Selbst-)Morde im September und Oktober 1977 durch die Rote Armee Fraktion (Baader-Meinhof-Gruppe, auch -Bande) und andere Gruppen wurde im Anschluss an den Omnibusfilm Deutschland im Herbst (1978) geprägt, eine die krisenhaften Ereignisse reflektierende Zustandsbeschreibung der westdeutschen Gesellschaft mit dokumentarischem Gestus (vgl. die eine Woche nach der Filmpremiere publizierte Rezension von 1978). Ab spätestens 1980 tritt die Bezeichnung häufiger in Großschreibung auf (1980, hier der gleiche Autor wie in Beleg 1978!), ein Signal für die Verdichtung zu einer namensähnlichen Fügung. Vgl. zum Ablauf der Ereignisse z. B. die journalistische Darstellung Vierundvierzig Tage im Herbst in Aust 1989, 455–592. Aust schreibt deutscher Herbst
übrigens noch klein und in Anführungszeichen (S. 592).
2) Der Streit zeichnete sich bereits in der 2. u. 3. Lesung des Gesetzes vom 17. 1. 1980 ab, wo die hohen Kosten für die Bundesländer beklagt wurden (S. 15662). Am 8. 2. 1980 stimmte der Bundesrat dem Gesetzentwurf zwar zu, im selben Zuge formulierte man aber eine Entschließung
: Der Bundesrat geht davon aus, daß der Bund die Kosten der Infrastruktur bei der Bundesdruckerei für die technische Herstellung der Ausweise trägt und die Kosten für die Versendung der hergestellten Ausweise an die Ausweisbehörden übernimmt.
(Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages vom 13. 2. 1980, 16003; Zitat S. 16067)
3) In der 2. u. 3. Lesung vom 17. 1. 1980, 15661–15666, fällt das Wort Muster hingegen nicht ein einziges Mal. Dies erklärt sich wohl aus dem Umstand, dass es in den Debattenbeiträgen fast nur noch um datenschutzrechtliche Aspekte ging, die bei einer inzwischen erfolgten Überarbeitung des Gesetzentwurfes offenbar im Vordergrund standen. Allein die – nicht weiter spezifizierte – Bitte, das Ausweispapier auf ein geringeres Format zu bringen
(S. 15665), scheint sich noch auf die Ausführungsweise der Dokumente zu beziehen.
Literatur
Aust 1989 Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. München 1989 [zuerst 1985].
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
Lexikon der Filmbegriffe Wulff, Hans Jürgen (Hrsg.): Lexikon der Filmbegriffe. (uni-kiel.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Erika Mustermann, Max Mustermann, Mustermann.