Wortgeschichte
Pauper und pauperism: Entlehnung
Pauperismus tritt als Wort im Deutschen erstmals zu Beginn der 1830er Jahre auf (1830, 1831). Es ist auf das englische Substantiv pauperism zurückzuführen, das bereits um 1800 durch Verbindung des älteren pauper mit dem Suffix -ism abgeleitet wird und seit den 1790er Jahren der Zustand, extrem arm zu sein; extreme Armut‘ sowie seit Beginn des 19. Jahrhunderts Existenz einer extrem armen Bevölkerungsschicht
bedeutet (vgl.
3OED unter pauperism, n.). Vom Englischen aus wird das neue Substantiv sowohl ins Französische (vgl.
TLFi unter paupérisme) als auch etwas später ins Deutsche entlehnt, wobei für die Übernahme ins Deutsche auch die Verwendung im Französischen eine Rolle gespielt haben könnte: Werner Conze hat darauf hingewiesen, dass Alban Villeneuve-Bargemons Abhandlung Économie politique chrétienne, ou recherches sur la nature et les causes du paupérisme […]
(Paris 1834) wichtig für die Übernahme des Wortes ins Deutsche gewesen sei (GG 4, 39). Einzelne Belege sprechen jedenfalls durchaus dafür, dass die frühere Entlehnung vom Englischen ins Französische auch für die Etablierung im Deutschen eine Rolle gespielt haben mag (1831). Auch in Heyses Verdeutschungswörterbuch spielen französische Wörter im Eintrag zum lateinischen pauper, unter dem auch Pauperismus gebucht wird, Mitte der 1830er Jahre eine auffallend große Rolle (vgl.
7Heyse Fremdwörterbuch, 184–185).
Sprachgeschichtliche Vorläufer im Deutschen
Auch wenn die Bildung Pauperismus als Lehnwort aus dem Englischen Eingang ins Deutsche findet, gibt es doch auch im Deutschen bereits im 18. Jahrhundert sprachgeschichtliche Entwicklungen, die den Boden für die Entlehnung bereiten und die steigende Bezeugungsfrequenz des Substantivs Pauperismus ab Mitte der 1830er Jahre vorbereiten. So treten die lateinischen Wörter pauper und paupertās in deutschsprachigen Texten mindestens des 18. Jahrhunderts auf; pauper wird nachfolgend ins Deutsche entlehnt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts bilden sich zudem eine ganze Reihe von Komposita mit Pauper- als Bestimmungswort aus (vgl. hierzu im Detail den entsprechenden Abschnitt im Artikel PauperWGd).
Voraussetzungen der Verbreitung von Pauperismus
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu Pauperismus, Verelendung und soziale Frage.
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Ab den 1830er Jahren steigt die Bezeugungsfrequenz für Pauperismus im Deutschen signifikant (vgl.
Abb. 1). Das Wort kann dabei zwar auch recht allgemein im Sinne von Armut
verwendet werden (1844) und in dieser Bedeutung auf verschiedene Gesellschaftsschichten bezogen werden (1840a); im engeren Verständnis bezeichnet Pauperismus jedoch eine ganz spezifische Form der Armut zu Zeiten der Vor- und Frühindustrialisierung (1846, 1859), die sich hinsichtlich Ursachen, Verbreitungsgrad innerhalb der Bevölkerung (Massenverarmung
) und Ausmaß sowohl von älteren Formen der Armut als auch von späteren Formen der Arbeiterarmut in den Städten unterscheidet – Werner Conze hat schon früh herausgearbeitet, dass Nahrungslosigkeit
zum Kennzeichen des Pauperismus wurde (vgl.
Conze 1954, 349).
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Sachhistorischer Hintergrund der Entstehung dieser Form der Massenarmut ist der tiefgreifende gesellschaftliche und ökonomische Umbauprozess um 1800: Beim Pauperismus handelt es sich nicht mehr um die Armut einer bislang an ihrer Fortpflanzung durch gesetzliche Restriktionen großenteils gehinderte Unterschicht, sondern einer durch vielerlei Emanzipationen (z. B. Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, gesteigerte Mobilität, Lockerung von Heiratsverboten) freigesetzten und sich relativ ungehemmt vermehrenden Masse […].‹P[auperismus]› bezeichnet demnach einen (vorwiegend ländlichen) Überbevölkerungsprozeß in der Übergangsphase zwischen gebundener Gesellschaftsordnung und dem ökonomischen Wirksamwerden der
(HWPh 7, 217–218) In Deutschland sei der Pauperismus, so schon Conze, vor allem auf das Missverhältnis zwischen hohem Angebot von Arbeitskräften und der beschränkten Zahl von gewerblich-industriellen Arbeitsstellen in den 1840er Jahren zurückzuführen; er sei damit viel weniger eine Folge der jungen Industrie mit ihren niedrigen Löhnen als vielmehr der noch zu geringen Aufnahmefähigkeit der Industrie angesichts der fortschreitenden Übervölkerung (vgl.
Conze 1954, 335). Diese existenzielle Form der Massenarmut nimmt ab den 1850er Jahren ab: Industriellen Revolution
.Während seit der Mitte des Jahrhunderts (prototypisch) die Dreschmaschine auf dem Lande ihren Siegeszug antrat und die Überzähligen vom Lande vertrieb, wurden dadurch die Tagelöhner nicht brotlos, sondern frei gemacht für die Industrie, die sie aus der Gefahr der
[Conze 1954, 362]Nahrungslosigkeit
herausführte. Wohl bliebt die soziale Frage
bestehen – ja sie wurde im Zusammenhang mit der raschen Groß- und Industriestadtbildung verschärft. Aber das Entscheidende war zunächst geschehen: die Arbeitsstellen waren geschaffen worden und wurden weiter geschaffen, eine relative Sicherung der Existenz wurde erreicht. Zwar waren die Lebensbedingungen noch immer knapp und proletarisch
; aber sie lagen doch über dem Stande des Pauperismus der 30er und 40er Jahre und wurden im Laufe der Jahre weiter verbessert.
Schon die Zeitgenossen haben den Pauperismus dabei als neuartiges Phänomen wahrgenommen (1842a; 1846, vgl. auch Conze 1954, 336), dem sich in den 1830er und 1840er Jahren eine ganze Flut an Publikationen gewidmet hat (vgl. schon die zeitgenössische Beobachtung im Eintrag Pauperismus
in Ersch-Grubers Allgemeiner Encyklopädie der Wissenschaften und Künste [1840b]; daneben auch Conze 1954, 355). Mit der zunehmenden Verbreitung von Pauperismus entsteht im Deutschen auch das Substantiv Pauper
Armer
bzw.
Armer zu Zeiten der vorindustriellen Massenverarmung
.
Armut – Pauperismus – Verelendung. Abgrenzungen, Ablösungen
In sprachgeschichtlicher Perspektive lassen sich im Übrigen unterschiedliche Wörter für die verschiedenen historischen Formen von Armut beobachten. So wird Pauperismus zunächst in der Regel in expliziter Abgrenzung zum weiteren und älteren Armut verwendet: Während letzteres auch ältere Formen der Armut bezeichnen kann, wird unter Pauperismus vor allem Massenverarmung, Massenelend
(1842b, 1859) begriffen (vgl. auch EdN unter Pauperismus).
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Die Forschung hat im Zusammenhang mit der Ausbildung des Wortes Pauperismus darauf hingewiesen, dass Armut in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit als solche niemals anstößig gewesen sei: Not und Elend mochten als schweres Los empfunden worden sein – oder als Laster, sofern sie selbstverschuldet waren. Trotzdem galt es als selbstverständlich, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die zur Subsistenzsicherung auf eigene Arbeit angewiesen war, arm war und bleiben sollte bzw. musste (wo das Christentum die Armut aufwertete, trug es zur Befestigung dieser Auffassung bei).
Diese traditionelle Verbindung sei, so Thomas Sokoll, in der Industrialisierung zerbrochen und nun – aus unterschiedlichen Motiven – als gesellschaftlicher Skandal empfunden worden. (Vgl.
EdN unter Pauperismus).
In den 1830er und 1840er Jahren tritt Pauperismus darüber hinaus häufig zusammen mit ProletarierWGd auf (1840c, 1845, 1847), dessen semantische Kontur zu dieser Zeit eng mit dem Wort Pauperismus verbunden ist (vgl. GG 5, 41; daneben auch Conze 1954).
Mit der veränderten sozioökonomischen Lage der unteren sozialen Schichten einerseits und der inhaltlichen Verschiebung des Armutsdiskurses hin zur sozialen Frage der Industrialisierung andererseits nimmt die Bezeugungsfrequenz des Wortes Pauperismus signifikant ab (vgl. Abb. 1). Diese Entwicklung geht mit einer auch semantischen Transformation einher: Pauperismus bezeichnet gegenwärtig überwiegend in historischer Perspektive jene Phase der Vor- und Frühindustrialisierung sowohl in Deutschland als auch in Europa, die in den 1830er und 1840er Jahren durch Massenarmut geprägt war (1964, 1983, 1991). Nur gelegentlich wird das Wort heute auch auf gegenwärtige soziale Entwicklungen bezogen, dabei im Vergleich zu den auf die sozioökonomischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts bezogenen Verwendungen freilich mit einem breiteren Verständnis von Verarmung (1992, 1993).
Zeitgleich zum Rückgang der Bezeugungsfrequenz des Wortes Pauperismus, das die Massenverarmung insbesondere der Landbevölkerung bezeichnet, steigt die Verwendungsfrequenz von VerelendungWGd (vgl.
Abb. 1) an. Mit der allgemeinen Bedeutung fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse
seit den 1830er Jahren bezeugt (1836), hat Marx‘ These von der Verelendung des Proletariats die weitere Verwendungsgeschichte des Wortes maßgeblich beeinflusst: Verelendung wird seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwiegend im engeren Sinn fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse
gebraucht (1894, 1988). Marx verwendet im Übrigen auch PauperisierungWGd (1867), das jedoch erst im 20. Jahrhundert etwas häufiger bezeugt ist.
Neben Pauperismus und Verelendung tritt im 19. Jahrhundert nicht zuletzt die Verbindung soziale Frage auf. Sie ist ebenfalls bis in die 1830er Jahre zurückzuverfolgen, bezieht sie sich im weiteren wortgeschichtlichen Verlauf dann jedoch nicht mehr nur auf das langsam verschwindende vorindustrielle Proletariat, sondern nun insbesondere auf die prekäre Lage der Industriearbeiterschaft (1906, vgl. auch GG 5, 57) und erlangt deshalb im Lauf des 19. Jh.s eine begriffliche Hegemonie
(EdN unter soziale Frage; vgl. auch Abb. 1).
Vom geistigen zum neuen Pauperismus. Verwendungen im 20. Jahrhundert
Im Zeitalter der Massenverarmung bezieht sich Pauperismus wie dargelegt überwiegend auf die materielle Not breiter Bevölkerungsschichten. Gleichwohl wird bereits im 19. Jahrhundert auch ein mit der materiellen Notlage verbundener bzw. sich aus dieser generierender geistiger Pauperismus im Sinne einer geistigen Verarmung
beobachtet (1858). Dies ist wohl der Ausgangspunkt für eine Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Pauperismus kann – zu einer Zeit, in der eine existentielle materielle Not, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts breite Bevölkerungsschichten betroffen hat, kaum mehr existiert – in Bezug auf die Gegenwart nun auch mit der Bedeutung geistig-seelische Verarmung
verwendet werden (1962). Für diese Form des Pauperismus wird gelegentlich auch die Wendung neuer Pauperismus gebraucht (1967, 1968).
Literatur
Conze 1954 Conze, Werner: Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. 41 H. 4 1954, S. 333–364.
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
7Heyse Fremdwörterbuch Heyse, Johann Christian August: Allgemeines Fremdwörterbuch oder Handbuch zum Verstehen und Vermeiden der in unserer Sprache mehr oder minder gebräuchlichen fremden Ausdrücke mit Bezeichnung der Aussprache, der Betonung und der nöthigsten Erklärung. Siebente rechtmäßige, vielfach bereicherte und verbesserte Ausgabe. Hannover 1835.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Pauperismus.