Wortgeschichte
Eine deutsch-französische Wortgeschichte
Die Geschichte des Wortes Milieu vereint deutsche wie französische Elemente: Etymologisch geht Milieu auf das Altfranzösische zurück, wo es aus mi (Mitte
) und lieu (Ort
) gebildet wird (vgl. Pfeifer unter MilieuDWDS). Erstmals aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt wird Milieu um 1800. Auch die weitere Wortgeschichte im Deutschen lässt sich nicht ohne die Entwicklungen im Französischen begreifen: Die Übertragungen in den Wortschatz der Biologie ebenso wie auf soziale Zusammenhänge und nicht zuletzt die Entwicklung zum Schlagwort des Naturalismus finden jeweils zuerst in Frankreich statt und werden dann ins Deutsche übernommen, dies allerdings in durchaus unterschiedlichem zeitlichen Abstand zur Bedeutungserweiterung in Frankreich.
Medium, Mitte, Milieu. Zu den Ursprüngen eines Wortes in der Mechanik
Inwieweit Milieu mit einer auf die Umwelt eines Körpers bezogenen Bedeutung bereits im 17. Jahrhundert im Bereich der Naturwissenschaften verwendet wird, ist nicht unumstritten: Das Oxford English Dictionary bucht die Verwendung für die physische Umwelt bereits bei Descartes 1639 (vgl. 3OED unter milieu, n.); der französische Philosoph Georges Canguilhem hingegen stellt in seiner Studie Das Lebendige und sein Milieu heraus, dass der Milieubegriff in der kartesischen Physik keinen Platz hat
, und setzt den mechanischen Milieubegriff erst mit Newton an (Canguilhem 2009, 235). Genauer müsste es wohl heißen: Mit der Übersetzung des Newtonschon Medium-Begriffs mit dem französischen Milieu (vgl. Feldhoff in HWPh 5, 1393).1) Auf Newton jedenfalls stützt sich auch der Eintrag Milieu éthéré
in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert Mitte des 18. Jahrhunderts (1765a; vgl. daneben auch 1765b), die Milieu im Französischen als ein Wort der Mechanik bestimmt, in der Bedeutung Umgebungsmaterie eines Körpers
. Die Aufnahme von Milieu in die Encyclopédie zeigt zugleich, dass diese Verwendung in Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts als etabliert gelten kann. In dieser Bedeutung ist Milieu bereits 1798 auch im deutschsprachigen Raum synonym zu Mittel und Medium nachweisbar, und zwar bezeichnenderweise gerade in einem Physikalischen Wörterbuch (1798).
Die richtige Mitte
als politisches Schlagwort
Im Deutschen tritt Milieu als Entlehnung aus dem Französischen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere in der festen Verbindung Juste milieu auf (1832). Auch diese Verbindung schließt an die Bedeutung Mitte
an, überträgt sie aber auf den Bereich der Politik: Die sich zum politischen Schlagwort entwickelnde Wendung von der richtigen Mitte
bezieht sich nach 1830 insbesondere auf die französische Politik unter Louis Philippe (1832, 1840). Diese Wortverwendung ist auch in anderen europäischen Sprachen nachweisbar (vgl. 3OED unter milieu, n.).
Entstehung des Fachbegriffs in der Biologie
Auch in die Biologie wird Milieu von einem Franzosen eingeführt, von Jean-Baptiste Lamarck, der es bereits 1809 in seiner Philosophie zoologique in der Bedeutung Umgebung eines Lebensorganismus
verwendet (1809). Damit bezieht sich Milieu nun auf die Umgebung von lebendigen Wesen und damit nicht mehr nur auf die Umgebung von träger Masse (vgl. Spitzer 1942, 175). Ins Deutsche scheint diese Bedeutung erst mit einer gewissen Zeitverzögerung übernommen zu werden: Die deutschsprachigen Erstbelege der Datenbank BioConcepts datieren auf 1871 und 1907 (vgl. BioConcepts unter milieu), die Erstbelege im DWDS auf 1907 und 1910 (vgl. Belege 1907, 1910). Die Tatsache, dass Richard Hesse das Wort zunächst noch in Anführungszeichen setzt, spricht dafür, dass es sich hier noch nicht um eine endgültig etablierte Wortverwendung im Bereich der Biologie handelt.
Spätestens in den 1930er Jahren ist diese Wortverwendung aber auch im Deutschen üblich und das Wort damit in die Fachsprache der Biologie eingegangen. Unterschieden wird zudem genauer zwischen äußerem und innerem Milieu eines Organismus (1934). Diese Wortverbindungen sind ihrerseits auf Claude Bernards Wortprägung des milieu intérieur und des milieu extérieur zurückzuführen (vgl. Lexikon der Biologie Online unter inneres Milieu). Bis heute sind Milieu, inneres und äußeres oder auch intra- und extrazelluläres Milieu und Milieutheorie Fachbegriffe im Bereich der Biologie wie auch in angrenzenden Wissenschaften (vgl. 1965, 1996, 2017a sowie die entsprechenden Einträge in Lexikon der Biologie Online etwa zu Milieutheorie und zu inneres Milieu).
Umwelt des Menschen
: Übertragung von der Biologie auf gesellschaftliche Zusammenhänge
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Milieu auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen und zwar wiederum zunächst im Französischen. 30 Jahre nach der ersten biologischen Wortverwendung begegnet Milieu bei Auguste Comte unter ausdrücklicher Nennung der biologischen Verwendungsweise im Kontext der entstehenden Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaft (1838; vgl. hierzu auch HWPh 5, 1394). Ab diesem Zeitpunkt kann Milieu im Französischen auch Umgebung, Umfeld, Umwelt des Menschen
bedeuten. Die Übertragung von Milieu auf die Umwelt auch von Lebewesen im weiteren Sinn in der Biologie ist wohl Voraussetzung der Übertragung auf die Umwelt menschlicher Lebewesen im Speziellen und damit der soziologischen Wortverwendung (vgl. Spitzer 1942, 175). Wesentlich zur Popularisierung dieser Wortverwendung beigetragen hat Hippolyte Taine mit seiner Unterscheidung von race, milieu und moment in der Histoire de la litterature anglaise (1863a, 1863b).
Im deutschen Sprachraum wird die gesellschaftliche Bedeutung bereits ab den 1870er Jahren (vgl. Pfeifer unter MilieuDWDS) übernommen (1883, 1887), deutlich schneller und vor allem mit mehr Breitenwirksamkeit als die im Französischen ältere biologische Wortverwendung, von der die auf gesellschaftliche Zusammenhänge bezogene Verwendung ursprünglich abgeleitet wurde. Neben Milieu in seiner auf die Gesellschaft bezogenen Verwendung steht im Deutschen das Wort UmweltWGd mit vergleichbarer Bedeutung (1908a, 1941). Darüber hinaus findet die auf das soziale und kulturelle Umfeld des Menschen bezogene Wortverwendung Eingang in ganz unterschiedliche (Fach-)Kontexte: Bereits um 1900 ist Milieu in der Kriminalistik (1901, 1912c) ebenso wie in Diskursen der Ökonomie (1900), der Frauenbewegung (1905a) oder der Psychologie (1930a) bezeugt. Nicht zuletzt wird Milieu um 1900 zu einem regelrechten Schlagwort der naturalistischen Kunstströmung.
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Es ist Honoré de Balzac, der das Wort Milieu 1842 in seiner Einleitung zur Comédie humaine erstmals im Kontext von Literatur verwendet (1912a, 1912b). Für Émile Zolas Konzeption des Experimentalromans und damit für den französischen Naturalismus wird Milieu – unter Rekurs auf Balzac und Bernard (vgl. Zola 1905, 5 und 8) – zu einem zentralen Konzept (1905b). Von Zola gehen wiederum wichtige Impulse für den ab 1880 anzusetzenden deutschen Naturalismus aus. Dieser übernimmt nicht nur die Vorstellung des vom sozialen Umfeld geprägten Menschen, sondern auch das Wort Milieu aus dem Französischen (1908a), das so zu einer Kategorie seiner Theoriedebatten – Conrad Alberti publiziert 1890 Das Milieu, Julius Röhr 1891 Das Milieu in Kunst und Wissenschaft – ebenso wie seiner Literaturproduktion (1897) wird.
Während Milieu bzw. Milieutheorie im Naturalismus ein zentrales Konzept ist und ein eigenes literarisches Genre, das Milieudrama (1908b), ausbildet, wird das Wort in der Nachfolge im Bereich der Literatur und Künste auch für alles verwendet, was das literarisch dargestellte soziale und kulturelle Umfeld betrifft, und verliert so an semantischer Präzision (1959, 2001b, 2013). Diese breitere Bedeutung findet ihrerseits Eingang auch in die literaturwissenschaftliche Terminologie (1985, hier in einer deutschen Übersetzung eines ursprünglich englischen Werkes zur Theorie der Literatur), hat sich aber zumindest in der deutschsprachigen Germanistik nicht flächendeckend durchgesetzt: Weder das 2Metzler Literatur Lexikon noch das Reallexikon der Literaturwissenschaft verzeichnen Milieu – anders als Milieutheorie
– als eigenständigen Eintrag.
Zu einem im engeren Sinn soziologischen Wort wird Milieu Ende des 19. Jahrhunderts bei Émile Durkheim (1950); Milieu ist bei ihm ein Oberbegriff zu Stände, KastenWGd und Klassen (vgl. 3Wörterbuch der Soziologie, 310). In der deutschsprachigen Soziologie wird Milieu in den frühen Jahren zunächst allerdings nur von einzelnen Autoren wie Georg Simmel (1908c) übernommen; daneben finden Wörter wie soziale Klasse (Max Weber) und soziale Schicht (Theodor Geiger) Verwendung, die in der Sache der Durkheimschen Milieu-Konzeption allerdings ähneln (vgl. auch 3Wörterbuch der Soziologie, 311–312). Erst ab den 1960er Jahren wird dann auch das Wort Milieu in der deutschen Soziologie vermehrt verwendet, so insbesondere von Walter Lepsius (1993a), der es semantisch auch weiter differenziert. Milieu gehört bis heute zur Fachterminologie der Soziologie (3Wörterbuch der Soziologie, 310). Und auch wenn das Historische Wörterbuch der Philosophie feststellt, dass Milieu im Laufe der Zeit in den meisten Fachwissenschaften durch andere, prägnantere Wörter wie etwa Umwelt in der theoretischen Biologie, soziale Situation in der Soziologie oder Feld in der Sozialpsychologie ersetzt worden sei (vgl. HWPh 5, 1395), so ist es nach wie vor in den einschlägigen Fachlexika präsent und damit weiterhin Teil auch anderer Fachsprachen, wie etwa der Ökonomie und der Psychologie (vgl. exemplarisch den Eintrag kreatives Milieu in Gabler online unter kreatives Milieu, den Eintrag regionales Milieu in Gabler online unter regionales Milieu sowie den Eintrag Milieu in Dorsch Online unter Milieu).
Gängige Wortverbindungen
Charakteristisch für die Verwendung von Milieu in seiner auf das soziale und kulturelle Umfeld des Menschen gerichteten Bedeutung ist seit Ende des 19. Jahrhunderts das Auftreten in Wortverbindungen, über die das jeweils adressierte Milieu näher bestimmt wird. Während soziales Milieu der Bedeutung von Milieu als Umfeld des Menschen im Allgemeinen
im Wesentlichen entspricht (1908c), spezifizieren Wortverbindungen wie geistiges (2001a), jüdisches (1904), ökonomisches (1920), nationalsozialistisches (1927), demokratisches (1928), historisches (1930b) oder subkulturelles Milieu (1971a; siehe auch SubkulturWGd), um welches soziale oder kulturelle Umfeld es sich genau handelt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich im Wortfeld kriminelles Milieu eine eigenständige Entwicklungslinie ausmachen, in der das Milieu durch die explizite Nennung des bestimmten Artikels die Bedeutung kriminelle soziale Gruppierung, Unterwelt
annimmt (1954, 2017b). Auch diese Bedeutungsentwicklung hat Vorläufer im Französischen: Die Bezeichnung milieu für die Unterwelt ist hier bereits in den 20er Jahren bezeugt (vgl. TLFi unter milieu). Im deutschen Sprachraum entsteht die Verwendung von Milieu mit dem bestimmten Artikel als Bezeichnung für die Halb- und Unterwelt wohl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Während soziales Milieu im Deutschen im Kontext von Kriminalität bereits seit der Jahrhundertwende verwendet wird (1901), datiert der Erstbeleg für die Wortverbindung kriminelles Milieu in den DWDS Referenz- und Zeitungskorpora dahingegen erst auf 1971 (vgl. Beleg 1971b), der Erstbeleg für Drogenmilieu auf 1972 (vgl. Beleg 1972) und für Rotlichtmilieu auf 1993 (vgl. Beleg 1993b). Bereits 1967 ist allerdings vom Kölner Milieu
(1967), 1974 vom Hamburger Milieu um die
(1974) die Rede. Milieu wird hier bereits im Sinne von Meile
Unterwelt
verwendet.
Anmerkungen
1) Vgl. zu Vorgeschichte und Eingang in die Sprache der Physik im Französischen im Detail die frühe Semantikstudie Milieu and Ambiance: An Essay in Historical Semantics von Leo Spitzer.
Literatur
Alberti 1890 Alberti, Conrad: Das Milieu. In: Ders.: Natur und Kunst. Berlin 1890, S. 62.
BioConcepts BioConcepts. The Origin and Definition of Biological Concepts. A Multilingual Database. (biological-concepts.com)
Canguilhem 2009 Canguilhem, Georges: Das Lebendige und sein Milieu. In: Ders.: Die Erkenntnis des Lebens. Aus dem Französischen von Till Bardoux, Maria Muhle und Francesca Raimondi. Berlin 2009, S. 233–280.
Dorsch Online Wirtz, Markus Antonius (Hrsg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. Online-Ausgabe, Bern/Bern 2013-. (hogrefe.com)
Gabler online Gabler Wirtschaftslexikon Online. Das Wissen der Experten. Wiesbaden 2009 ff. (gabler.de)
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Lexikon der Biologie Online Sauermost, Rolf (Projektleitung): Lexikon der Biologie. Online Ausgabe, Heidelberg 1999-. (spektrum.de)
2Metzler Literatur Lexikon Schweikle, Günther (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarbeitete Aufl. Stuttgart 1990.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Reallexikon der Literaturwissenschaft Weimar, Klaus u. a. (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1–3. Berlin u. a. 1997–2003.
Röhr 1891 Röhr, Julius: Das Milieu in Kunst und Wissenschaft. In: Freie Bühne für modernes Leben 2 (1891), S. 341–345.
Spitzer 1942 Spitzer, Leo: Milieu and Ambiance. An Essay in Historical Semantics. In: Philosophy and Phenomenological Research. A Quarterly Journal. (Sept. 1942), Bd. 3, H. 1, S. 1–42 u. (Dec. 1942), Bd. 3, H. 2, S. 169–218.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
3Wörterbuch der Soziologie Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. von Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff/Nicole Burzan. 3., völlig überarb. Aufl. Konstanz u. a. 2014.
Zola 1905 Zola, Émile: Le Roman Expérimental. Paris 1905.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Milieu.