Wortgeschichte
Vom Wortimport zum Inbegriff der indischen Gesellschaftsstruktur
Den ersten europäischen Entdeckungsfahrern begegnete in Südasien nicht nur eine historisch gewachsene und kulturell äußerst vielfältige Region, sondern auch eine Gesellschaft von verwirrender Komplexität. Die zahlreichen Gruppen der indigenen Bevölkerung wurden von portugiesischen Indienreisenden mit portugiesisch casta f. Rasse, Abkunft
bezeichnet; ursprünglich handelt es sich wohl um eine Substantivierung zu lateinisch castus adj. rein
(vgl. 25Kluge, 479b). Anzunehmen ist, dass mit portugiesisch casta f. auf unterschiedliche soziale und religiöse Gruppierungen Bezug genommen wurde, die den Portugiesen um 1500 in Indien, besonders an der westlichen Malabarküste, begegneten (vgl. Dharampal-Frick 1994, 182–183; HWPh 4, 702). Auf genuin hinduistische Konzepte sozialer Ordnung, sofern diese zu jener Zeit überhaupt eine tragende Rolle spielten, wurde damit zunächst nicht verwiesen.1)
In deutschen Indienberichten des 16. Jahrhunderts wird das Wort Kaste noch nicht verwendet; bei der beschreibenden Annäherung an indische Sozialstrukturen wird stattdessen auf Bezeichnungen wie Grad, Orden oder Rotte zurückgegriffen (vgl. Dharampal-Frick 1994, 191–192). Erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts tritt Kaste (in der Schreibung Caste) in deutschsprachigen Reiseberichten auf, und zwar in der Bedeutung religiös sowie nach sozialer Schicht und Funktion abgegrenzte Gruppe in der indischen bzw. hinduistischen Sozialordnung
und in synonymischer Relation zu Stand und Stamm und Zunft (1687, 1705, 1726). Auf welchem Weg genau die Bezeichnung in diese Texte gelangt ist, bleibt – wie bei einem Wort aus dem sehr internationalen Wortschatz des Kolonialismus nicht anders erwartbar – unklar.
Eine dichtere Bezeugung des Wortes ist erst ab ca. 1780 feststellbar (1785, 1794). Möglicherweise liegt hier auch eine erneute Entlehnung vor, für die eine französische Vermittlung in Frage kommt (s. Pfeifer unter KasteDWDS). Zwar ist nach wie vor ein deutlicher Bezug zu Indien bzw. zum Hinduismus erkennbar (1785, 1833, 1900, 1997); das Wort wird jedoch teilweise auch auf vergleichbare Gruppenbildungen in anderen Kulturen (Vorderasien, Japan) angewandt (1794, 1864).
Sich absondernde Gruppierungen und gesellschaftliche Schranken
Das ¹DWB weist mit Belegen um die Wende zum 19. Jahrhundert auf eine frühzeitige Übertragung auf europäische Verhältnisse hin (vgl. ¹DWB 11, 262). Im Deutschen, wie auch in anderen europäischen Sprachen, wurde das Wort verwendet, um einzelne Schichten und (Berufs-)Gruppierungen in den jeweiligen Gesellschaften zu bezeichnen, die sich streng von anderen abschließen und die sich im Einzelfall auch durch eine strikt interne Weitergabe von Rechten an die Folgegenerationen auszeichnen (zu den Parallelen und ggf. auch Vorbildern dieses Wortgebrauchs im Französischen und Englischen vgl. 1DHLF 1, 383 sowie 3OED unter caste; vgl. ferner Böck/Rao 1995 112). Dementsprechend werden in vielen gesellschaftlichen Ordnungen kastenähnliche Strukturen identifiziert, in denen eine nähere Berührung, Vermischung oder ein Aufsteigen aus einer niederen in eine höhere Schicht kaum möglich ist und in denen die Abstammung eine signifikante Rolle spielt (1811, 1848a, 1867, 1919b). Die Bezeichnungen Stamm, Stand und Zunft, die partiell schon in den ältesten Bezeugungen des 17. und 18. Jahrhunderts als Synonyme auftreten, finden sich auch hier als Entsprechungen. Auffällig ist, dass Kaste weniger der Selbstbezeichnung (wie im möglicherweise ironisch zu verstehenden Beleg 1919a) denn vielmehr der Fremdzuschreibung für sich absondernde Gesellschaftsschichten dient. Dabei wird es mit meist deutlich negativer Wertung verwendet. Die negative Wertung tritt dezidiert in solchen Belegen zu Tage, in denen Kaste als Ausdruck einer (antifeudalistischen) Sozial- und Herrschaftskritik verwendet wird (1799, 1848b, 1937; hier auch in Verbindung mit den ebenfalls pejorativen Bande und CliqueWGd).
Anmerkungen
1) Im 18. Jahrhundert setzen schließlich verschiedene Entwicklungen ein, die eine sogenannte Verkastung
der Hindugesellschaft begünstigen. Zu diesen gehören u. a. die Ausbildung von ElitenWGd, eine notwendige Verwaltung für den wachsenden Handel sowie, mit geradezu katalysatorischen Auswirkungen für das Kastenwesen, die Kolonialbürokratie der Briten (vgl. EdN unter Kaste).
Literatur
Böck/Rao 1995 Böck, Monika/Aparna Rao: Aspekte der Gesellschaftsstruktur Indiens: Kasten und Stämme. In: Dietmar Rothermund (Hrsg.): Indien. Kultur, Geschichte, Politik, Wirtschaft, Umwelt. München 1995, S. 111–131.
Dharampal-Frick 1994 Dharampal-Frick, Gita: Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500–1750). Studien zu einer interkulturellen Konstellation. Berlin 1994 (Frühe Neuzeit 18). (doi.org)
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Kaste.