Wortgeschichte
Anhänger der Ökologiebewegung und ihre Bezeichnungen
Seit den 1980er Jahren begegnet in deutschsprachigen Texten die neue Sozialfigur des Anhängers der neuen Ökologiebewegung. Benennungen gibt es verschiedene – das Spektrum reicht von ÖkosWGd über Körnerfresser und Müslifresser bis hin zu Müslis. Vor allem letztere entwickeln sich wohl aus einer verbreiteten Assoziation heraus, die die Anhänger der Ökologiebewegung mit einer spezifischen Ernährungsform, dem Vegetarismus im Allgemeinen und davon ausgehend einer Vorliebe für Müsli im Speziellen, verbindet (1997, 1999).
Von d’Spys zu Mü(e)sli
Müsli geht in der heutigen Bedeutung Speise bzw. (Trocken-)Mischung aus Getreideflocken, Nüssen und (Trocken-)Obst
auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Um 1900 führt der Arzt und Ernährungsreformer Max Bircher-Benner im Kontext seiner Rohkostdiät eine Apfeldiätspeise ein, von ihm selbst wohl auch als d’Spys bezeichnet (von schweizerisch Spis, die Speise
; vgl. Wirz 1993, 72). Diese Speise setzte sich aus eingeweichten Haferflocken, Zitronenmilch, gezuckerter Kondensmilch, geriebenen Äpfeln und Nüssen zusammen und glich mehr einem Brei als dem, was heute als Flocken-Nuss-Dörrobstmischung überwiegend unter (Trocken-)Müsli verstanden wird. Im Volksmund wurde die Speise dann zum Birchermüesli (vgl. Kollenbach 1974, 148). Müesli ist dabei eine Verkleinerungsform des schweizerdeutschen Mues, breiartige Speise, Mus
(vgl. Idiotikon IV, 488) – Birchermüesli bedeutet zunächst also kalter Apfelbrei
. Von Haferbrei, englisch porridge, unterscheidet sich diese Speise dadurch, dass sie nicht gekocht wird.
Mit der Apfeldiätspeise verbreitet sich auch die Bezeichnung Birchermüesli bzw. Birchermüsli über die Grenzen der Schweiz hinaus (1908, 1939). Müsli – im süddeutschen Raum auch Müesli – koppelt sich in den nachfolgenden Jahrzehnten dann sukzessive vom Namen Bircher-Benners ab (1941, 1961). Wann genau Müsli auch auf Trockenmischungen aus Getreideflocken, Nüssen und Trockenobst übertragen wird und damit die heute gängige Bedeutung erhält, ist schwer zu sagen. Spätestens ab Ende der 1970er Jahre jedoch lassen sich Markeneintragungen, die das Wort Müsli enthalten, für solche Trockenmischungen nachweisen (vgl. etwa den Eintrag zur Wort-Bildmarke Kölln Feinschmecker Müsli fruchtig-kernig beim Deutschen Patent- und Markenamt 1979). Damit kann die gegenwärtig dominierende Bedeutung spätestens als entstanden gelten.
Vom Müsli zu den Müslis
Eine Voraussetzung für die Ausbildung der Bezeichnung Müslis für Anhänger der Ökologiebewegung wird dann eine Verschiebung der diskursiven Grundierung des Wortes Müsli in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen sein. So wird das Wort durch die Verwendung im Kontext der Ernährungsreform ab 1900 zunächst vor allem in Gesundheitsdiskursen im Speziellen verwendet und hat hier die Nebenbedeutungen Diätspeise
, später auch allgemeiner gesunde Speise
(1968). Diese Bedeutungsaspekte dominieren noch über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus (1950, 1961). Von der Bedeutung gesunde Speise
aus wird Müsli im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend mit alternativen Lebensformen im Allgemeinen assoziiert (1978, 1980). Wohl ausgehend hiervon bildet sich schließlich Anfang der 1980er Jahre Müslis als Bezeichnung für Anhänger alternativer Lebensformen im Allgemeinen und der Umweltbewegung im Besonderen heraus (1981a, 2005).
Während Müsli in der Bedeutung Speise bzw. Trockenmischung, die Getreideflocken, Nüsse und (Trocken-)Obst enthält
überwiegend im Singular begegnet (1978, 1999), scheint Müslis als Bezeichnung für Anhänger der Ökologiebewegung – anders als etwa Öko – wohl ausschließlich im Plural verwendet zu werden (1986a, 1993, 2013).
Körnerfresser und Müslifresser: Synonyme
Ab Anfang der 1980er Jahre bilden sich zudem in etwa zeitgleich zu Müslis die Bezeichnungen Körnerfresser (1981b, 1982a) und Müslifresser (1982b) für Anhänger alternativer Bewegungen heraus. Während Müslifresser wie Müslis auch auf Müsli zurückzuführen ist, gilt das natürlich nicht oder zumindest nicht in direkter Linie für das Wort Körnerfresser: Dieses Wort ist im Bereich der Biologie seit Jahrhunderten bezeugt und wird dort als Bezeichnung für körnerfressende Vögel verwendet (1851, 1910, 1995). Die Verwendung von Müsli auch für gebrauchsfertige Trockenmischungen mag insofern eine Voraussetzung für die Übertragung des Wortes Körnerfresser auf Personen, die sich vorwiegend von Getreide etwa in Form von Müsli ernähren, gewesen sein. Schwer zu entscheiden ist allerdings, ob Körnerfresser in dieser Bedeutung vor oder nach Müslifresser entsteht – insofern lässt sich ebenfalls schwer sagen, ob Körnerfresser nach Müslifresser modelliert wird, unabhängig von Müslifresser eine semantische Erweiterung erfährt oder die Bildung gar umgekehrt – Müslifresser wird auf Körnerfresser modelliert – verläuft.
Konnotationen
Die drei Wörter entstehen nicht nur in etwa zeitgleich, sie haben auch hinsichtlich ihrer Semantik ebenso wie der mit ihnen verbundenen Konnotationen deutliche Überschneidungen. So beziehen sie sich wesentlich auf eine vegetarische Ernährungsweise (1982c, 1986b, 2017). Allen gemein ist zudem, dass es sich um negativ konnotierte Fremdzuschreibungen handelt (1987, 1981b, 1982a, 1994, 2010). Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass Müslis sich nur auf Anhänger der Ökologiebewegung der 1980er Jahre bezieht, heute also vornehmlich in historischer Perspektive verwendet wird – und das, obwohl oder gerade weil die Werte, die die sogenannten Müslis vertreten haben, heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind (2009, 2010). Dahingegen kann insbesondere Körnerfresser mittlerweile auch allgemeiner auf Vegetarier (2006) sowie jüngst auch Veganer (2017, 2019) bezogen werden.
Literatur
Idiotikon Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bd. 1 ff. Basel/Frauenfeld 1881 ff. (idiotikon.ch)
Kollenbach 1974 Kollenbach, Dorothea: Maximilian Oskar Bircher-Benner, (1867–1939). Krankheitslehre und Diätetik. Köln, Univ., Diss., 1974.
Wirz 1993 Wirz, Albert: Die Moral auf dem Teller. Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher-Benner und John Harvey Kellogg, zwei Pionieren der modernen Ernährung in der Tradition der moralischen Physiologie; mit Hinweisen auf die Grammatik des Essens und die Bedeutung von Birchermues und Cornflakes; Aufstieg und Fall des patriarchalen Fleischhungers und die Verführung der Pflanzenkost. Zürich 1993.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Müslis, Körnerfresser, Müslifresser.