Wortgeschichte
Lebensweise – Lebensführung. Entstehung um 1800
Lebensweise löst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das ältere LebensartWGd, das in der Verwendungshäufigkeit bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts deutlich rückläufig ist, ab (vgl. auch den Wortfeldartikel LebensformenWGd). Zwar ist Lebensweise als Wortkörper vereinzelt bereits seit dem 17. Jahrhundert bezeugt (1620, 1674), scheint jedoch nicht über den Status einer Spontanbildung hinauszukommen. Erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht Lebensweise nicht nur den Status eines eigenständigen Wortes im deutschen Wortschatz, sondern überholt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das bis etwa 1800 dominant verwendete Lebensart hinsichtlich der Verwendungshäufigkeit. Das Deutsche Wörterbuch bucht Lebensweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem als gleichbedeutend mit Lebensart (1DWB 12, 457). Gerade zu Beginn werden beide Wörter wohl auch synonym verwendet. Dafür sprechen eine Reihe von Kollokationen wie sitzende Lebensart/Lebensweise (1745, 1820), vernünftige Lebensart/Lebensweise (1800, 1797b) oder auch die auffallend häufige gemeinsame Verwendung der Wörter Klima und Lebensart/Lebensweise (1794, 1785), die die Austauschbarkeit beider Wörter nahelegen.
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Lebensweise“ und „Lebensführung“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Neben Lebensweise tritt im 19. Jahrhundert als weiteres Wort Lebensführung, das allerdings insgesamt weniger häufig verwendet wird als Lebensweise (vgl. die Wortverlaufskurve des DWDS, Abb. 1). Sowohl Lebensweise als auch Lebensführung treten um 1800 erstmals auf, beide mit DTA-Erstbeleg bei Johann Gottfried Herder (1784a, 1797a). Während Lebensweise bei Herder ebenso wie Lebensart auf eine Kulturgemeinschaft oder eine Nation bezogen sein kann – und das gerade auch in der historischen Perspektive – ist Lebensführung zunächst noch auf die Lebensart eines gesellschaftlichen Standes bezogen (1797a). Das Deutsche Wörterbuch bucht lebensführung denn auch mit eine sittliche lebensführung
(1DWB 12, 440).
Breitere Verwendung findet Lebensführung erst ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Während die Verwendungshäufigkeit von Lebensweise um 1900 bereits deutlich rückläufig ist, ist diejenige von Lebensführung bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch auf einem stabilen Niveau. Mit Blick auf eine Abgrenzung von Lebensweise und Lebensführung fällt vor allem auf, dass Lebensführung in der weiteren Bedeutungsentwicklung im 19. Jahrhundert zunehmend auf die individuelle Lebensgestaltung bezogen wird (1823, 1847, 1883); es hat mithin die Bedeutung der Art, wie jemand sein Leben gestaltet
.
Typische Lebensformen von Tieren und Pflanzen. Eingang in naturhistorische und ökologische Diskurse
Das Sprechen über Formen des Lebens beschränkt sich nicht auf Formen menschlichen Lebens, sondern erstreckt sich auch auf die Behandlung typischer Lebensformen von Tieren und Pflanzen. Insofern treten auch die Wörter Lebensart, Lebensführung und Lebensweise in diesen Kontexten auf: Lebensart ist im DTA erstmals bereits 1706 im Zusammenhang mit der Tierwelt bezeugt (1706), Lebensweise verwendet schon Herder auch im Zusammenhang mit der Tierwelt (1784b). Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es allerdings insbesondere Lebensweise, das in naturgeschichtlichen, biologischen und ökologischen Schriften in der Bedeutung typische Lebensform von Tieren oder Pflanzen
weit verbreitet ist (1851, 1864, 1866, 1872).
Beobachtung der Gesellschaft und ihrer Lebensweisen. Ferdinand Tönnies und die entstehende Soziologie
Bereits deutlich früher, nämlich Ende des 19. Jahrhunderts, führt Ferdinand Tönnies, einer der Gründerväter der deutschsprachigen Soziologie, Lebensweise in seiner Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft in die Fachsprache der Gesellschaftswissenschaft ein. Wie der entstehenden Soziologie im Allgemein geht es auch Tönnies in diesem Grundlagenwerk um die Beobachtung und Beschreibung der (modernen) Gesellschaft. Lebensweise wird hier sechsmal verwendet, Lebensart und Lebensführung je einmal, LebensstilWGd gar nicht. Er unterscheidet in seinem Hauptwerk die der Vormoderne zugeschriebene, positiv konnotierte Gemeinschaft
von der der Moderne zugeschriebenen, negativ konnotierten Gesellschaft
. Gemeinschaft
und Gesellschaft
werden dann unterschiedliche Formen der Lebensweise zugeordnet (1887b, 1887a). Lebensweise bezieht sich in dieser Verwendung also auf die Art und Weise der Lebensgestaltung und des Zusammenlebens eines menschlichen Kollektivs in Abhängigkeit von dem in der historischen Perspektive variierenden Gesellschaftstypus
. Das Wort ist bei Tönnies damit zugleich in den größeren Zusammenhang des Modernediskurses des ausgehenden 19. Jahrhunderts eingelassen.
Naturgemäße, sozialistische und nachhaltige Lebensweisen. Zu einigen Kollokationen in der Moderne
Um 1900 verwendet die Lebensreformbewegung das Wort Lebensweise intensiv: Insbesondere die Kollokation naturgemäße Lebensweise wird in bestimmten Kreisen zu einem regelrechten Schlagwort (1885, 1912). Die Wortverbindung der naturgemäßen Lebensweise ist in diesem Diskurs ex negativo auf eine vermeintlich nicht mehr naturgemäße
Lebensweise in der Gegenwart bezogen. Damit aber ist die Rede von der naturgemäßen Lebensweise erstens zugleich im Kontext des Modernediskurses der Jahrhundertwende zu verorten. Zweitens verweist die Wortverbindung, die vor dem Hintergrund der Lebensreformbewegung und deren Grundprinzip der Gesellschaftsreform durch Selbstreform
(Wolfgang R. Krabbe) zu lesen ist, gerade auch auf die individuellen Gestaltungsfreiräume hinsichtlich der gewählten Lebensweise. Damit aber verbinden sich mit Lebensweise hier individuelle Implikationen, die so erst im Laufe der Moderne, in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft entstehen können.
Neben naturgemäße Lebensweise bildet sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine weitere feste Wortverbindung aus: sozialistische Lebensweise (1956, 1983, 2000). In der Verbindung mit sozialistisch wird Lebensweise nun nicht nur allgemein an das Welt-, Gesellschafts- und Geschichtsbild des Sozialismus rückgebunden, vielmehr handelt es sich um eine Wortprägung, in der sich zugleich die staatliche Repression des DDR-Regimes, genauer sein Eingreifen in die Entscheidungsfreiheit des Individuums über seine eigene Lebensgestaltung bis in konkrete Verhaltensweisen
hinein, ausdrückt (1981).
Ab ungefähr den 1980er Jahren entstehen vor dem Hintergrund von Umwelt- und Klimadiskurs die festen Wortverbindungen nachhaltige Lebensweise (1996, 2003) und nachhaltiger Lebensstil (1995). Voraussetzung hierfür ist die Bedeutungserweiterung von nachhaltigWGd im Sinne von zukunftsfähig
sowie umwelt- und klimafreundlich
wie sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Kontext der Umweltdiskurse anzusetzen ist.
Der nurmehr ausschnitthafte Überblick über die unterschiedlichen Kollokationen verdeutlicht schließlich, dass Lebensweise sowohl Formen der Lebensführung ganzer Kollektive bezeichnen kann als auch individuell gewählte Formen der Lebensgestaltung.
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Lebensweise, Lebensführung.