Wortgeschichte
Lebensart als ratio vitae, norma vivendi
Eines der ältesten deutschen Wörter, mit denen die Art und Weise der Lebensführung
bezeichnet wird (vgl. auch den Wortfeldartikel LebensformenWGd), ist Lebensart – der DTA-Erstbeleg datiert auf 1656 (vgl. 1656). Vor 1750 hat Lebensart überwiegend keine Bedeutungsaspekte des Individuellen, insofern die Art und Weise der Lebensführung sich aus einem übergeordneten Bezugssystem wie Religion, Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht und/oder Berufsgruppe oder ähnliches ableitet (1656, 1706, 1740, 1756). Dafür spricht nicht zuletzt auch Kaspar Stielers Buchung von Lebensart mit der Bedeutung ratio vitae, norma vivendi
(i. S. v. Lebensführung nach Sitten und Gewohnheiten; Plan, Regulativ des Lebens
, Stieler, 58). Lebensart als individuell gestaltete Lebensführung ist höchstens in der Behandlung von Fragen der je unterschiedlichen Haushaltsführung auszumachen (1693).
Ausrichtung an Moral und Tugend in der Aufklärung
Abb. 1: Wortverlaufskurve „Lebensart“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Ab etwa 1750 können zwei Entwicklungen beobachtet werden: Erstens lässt sich, das zeigen die übereinstimmenden Wortverlaufskurven des Google NGram Viewers und des DWDS (vgl. Abb. 1), ein signifikanter Anstieg der Bezeugungsfrequenz verzeichnen. Zweitens fällt zumindest für die Belege im DTA auf, dass das Wort auffallend oft in literarischen Texten auftritt, so etwa in den Übersetzungen der Romane Samuel Richardsons wie beispielsweise Clarissa (1750), in Christian Fürchtegott Gellerts Roman Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G.*** (1747), in Christoph Martin Wielands Agathon (1767) oder in Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771). Daneben stehen Verwendungen in Texten wie dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1785). Schließlich fällt drittens in der Auswertung der angeführten Belege auf, dass gegenüber Religion oder gesellschaftlicher Zugehörigkeit nun andere Aspekte zum Bezugssystem einer richtigen
Lebensart werden, genauer Tugend, Moral, Sittlichkeit. Alle diese Einzelaspekte hängen nun miteinander zusammen, ja bedingen einander: Die auffallend häufige Verwendung von Lebensart gerade in Schlüsseltexten der (literarischen) Aufklärung, die semantische Verschiebung hin zu gerade bürgerlichen Werten, schließlich die zunehmende Verwendungshäufigkeit ab etwa 1750 und der deutliche Rückgang nach 1800 sprechen dafür, dass das spezifische semantische Profil des Wortes zu dieser Zeit ebenso wie seine Konjunktur eng mit den Ideen der Aufklärung verbunden sind.
Zugleich kann die semantische Verschiebung hin zu Moral, Tugend und Sittlichkeit als Bezugssystem für Lebensart als ein erster Schritt hin zu einem Verständnis von Art und Weise der Lebensgestaltung
(und dann später auch: der Verwendung eines Wortes wie LebensweiseWGd hierfür) lesen, bei dem der Bedeutungsaspekt des Individuellen der Lebensgestaltung stärker ausgeprägt ist. Zwar bilden Moral und Tugendhaftigkeit Ende des 18. Jahrhunderts noch ein überindividuelles Bezugssystem für die Gestaltung des Lebens; hierfür spielt jedoch deutlich auch schon die individuelle Arbeit an der eigenen für richtig erachteten Lebensführung eine Rolle (1753a, 1791). Jedenfalls zeigt sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auch eine Verwendung von Lebensart, die einen Zusammenhang von Lebensgestaltung einerseits und individueller Persönlichkeitsentwicklung andererseits impliziert (1767).
Übertragung auf Völker und Kulturgemeinschaften
Mindestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts steht neben jener auf die Lebensgestaltung durch den einzelnen Menschen bezogenen Bedeutung auch jene, die sich auf die Art und Weise der Lebensführung eines Volkes oder einer Kulturgemeinschaft
bezieht (1707, 1742, 1745). Nun ist zwar die Verwendung von Lebensart in Bezug auf ein ganzes Volk schon seit dem beginnenden 18. Jahrhundert bezeugt, erst um 1800 jedoch und spätestens mit Herder wird Lebensart in den größeren Zusammenhang der zu dieser Zeit allererst entstehenden kulturphilosophischen Betrachtungen eingelassen (1784a, 1784b). Herder ist es zugleich, der neben Lebensart auch die Wörter LebensweiseWGd und LebensführungWGd verwendet – zunächst durchaus synonymisch.
Die Kunst des guten Lebens
Schließlich bildet sich – vielleicht vor dem Hintergrund, dass Lebensart ab einem bestimmten Zeitpunkt auch auf ganze Völker bezogen werden kann – eine weitere Bedeutung heraus: Lebensart kann nun auch die Kunst des guten Lebens
, den kultivierten Lebensstil
bezeichnen (1778b, 1795). Mindestens ab 1753 ist die Wortverbindung feine Lebensart bezeugt (1753b). Mit Blick auf die Bedeutung fällt eine gewisse Nähe zum französischen savoir-vivre auf. Jedenfalls tritt Lebensart haben auch in Verbindung mit Frankreich (1778a) und französische Lebensart als bedeutungsgleich zu savoir vivre
(1783) auf – hier allerdings negativ besetzt.
Zwar verliert Lebensart als Wort nach 1800, das bildet die Wortverlaufskurve des DWDS ab (vgl. Abbildung 1), zunehmend an Relevanz, dennoch gehört das Wort nicht zu denjenigen, die heute nicht mehr in Gebrauch sind. Vielmehr findet Lebensart bis heute in der Bedeutung Art und Weise der Lebensführung
, hier sowohl in Bezug auf ein Kollektiv (2001) als auch in Bezug auf eine individuelle Art der Lebensgestaltung (1989), ebenso wie in der Bedeutung Kunst des guten Lebens, kultivierter Lebensstil
(2000) noch immer Verwendung.
Literatur
Stieler Stieler, Kaspar von: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz/ Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter/ so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn/ nebst ihrer Ankunft/ abgeleiteten/ duppelungen/ und vornemsten Redarten/ mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. […] Nürnberg 1691. (mdz-nbn-resolving.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Lebensart.