Wortgeschichte
Lexikalische Differenzierung: Gesinde und Gesindel
Gesindel, älter auch Gesindlein, ist eine Ableitung von GesindeWGd mit Hilfe des Suffixes -l bzw. -lein (1525, 1578, 1605). Mit diesem Suffix werden im Oberdeutschen und Teilen des Mitteldeutschen üblicherweise Verkleinerungsformen gebildet (Paul, Dt. Gr. 5, 49). Eine solche Verkleinerung muss allerdings nicht in jedem Fall eine kosende Verniedlichung der gemeinten Person bzw. des gemeinten Sachverhalts darstellen; es kann sich vielmehr mit der Vorstellung der Kleinheit auch leicht das Gefühl des Mitleids oder der Verachtung
einstellen (Paul, Dt. Gr. 5, 51), weshalb Verkleinerungen durchaus nicht immer positiv zu interpretieren sind. Im Frühneuhochdeutschen sind Diminutiva auf -lein oder -l freilich allgegenwärtig, so dass es oftmals schwerfällt, ihnen einen liebevoll-verkleinernden oder auch verächtlichen Nebensinn zuzuschreiben. Grundform und verkleinerte Form scheinen deshalb oftmals als bloße Ausdruckvarianten nebeneinander zu stehen.
Daher ist auch zum Verhältnis von frühneuhochdeutsch Gesinde und GesindeWGd festzuhalten, dass sämtliche Lesarten von Gesindel auch in der Verkleinerungsform auftreten können (vgl. etwa die Belege 1578 und 1605 mit der für Gesinde geläufigen Bedeutung Dienstboten, Angestellte
, s. auch frühneuhochdeutsch gesinde). Stellen Gesindel/Gesindlein noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts weitgehend inhaltsgleiche Varianten dar, hat sich spätestens um 1700 das Bild deutlich geändert. Gesindel ist nahezu vollständig auf die negative Bedeutung festgelegt, während Gesinde die angestammten neutralen Bedeutungen – hier in erster Linie Gemeinschaft der Bediensteten eines Haushalts
fortführt (vgl. für Gesindel den Beleg 1704; 1670 ist bei Grimmelshausen aber noch neutral von Gesindel als Gefolgschaft
die Rede). Die lexikalische Differenzierung zwischen Gesinde und Gesindel kann damit als abgeschlossen gelten.
Ein Wort für den gesellschaftlichen Rand
Die abwertende Lesart ist vom 16. bis zum 19. Jahrhundert hinweg weitgehend konstant geblieben: Gesindel wird meist auf Personengruppen bezogen, die dem Rand der Gesellschaft zugerechnet oder auch als gänzlich außerhalb der Gesellschaftsordnung stehend charakterisiert werden. Unter Gesindel werden deshalb u. a. Zigeuner, Landstreicher, Verbrecher, Juden oder auch Prostituierte gefasst (1660, 1715, 1718, 1724, 1792). In den historischen Zuschreibungen erscheint das Gesindel vor allem als moralisch verkommen und arbeitsscheu – es wird deshalb regelmäßig als unnütz, lose und liederlich bezeichnet (vgl. 1597, 1715, 1660). Geläufige Attribute sind auch fremd oder herrenlos, womit zum Ausdruck kommt, dass die gemeinten Personen außerhalb der durch Herrschaft und Ordnung positiv gekennzeichneten Gemeinschaft stehen (vgl. 1682b, 1795). Häufig erscheint das Wort auch in Verbindungen wie […] und dergleichen Gesindel nach einem Nomen oder als Abschluss einer Aufzählung gesellschaftlicher Randgruppen (1682a, 1693, 1704, 1718, 1785, 2009, vgl. auch allerhand Gesindel z. B. im Beleg 1727, 1914). Im Feld der Wörter für soziale Randgruppen funktioniert Gesindel somit auch als Oberbegriff.
Zur Stellung im Wortfeld
In dem stark ausgrenzenden Bedeutungsaspekt des Wortes kann auch ein Unterschied zu den ansonsten sehr ähnlich verwendeten Ausdrücken PöbelWGd und MobWGd gesehen werden: Während Pöbel und Mob im Wesentlichen für die verachtenswerte Unterschicht stehen, bezieht sich Gesindel auf das grundsätzlich Fremde
einer Gesellschaft. Pöbel und Mob haben immerhin insoweit einen Platz in der Gesellschaft, als ihnen mit der Stadt bzw. der Vorstadt ein erkennbarer Ort zugewiesen wird. Gesindel jedoch zieht umher und ist, wie erwähnt, herrenlos und fremd (neben den Belegen 1682b, 1795 vgl. auch 1741, 1782). Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Pöbel und Mob stark über ein zeitweise zu Tage tretendes Verhalten bestimmt werden, in dem sich freilich ein fundamentales moralisches Defizit manifestiert. Gesindel wird dagegen nicht so sehr aufgrund eines bestimmten Auftreten oder Tuns, sondern eben über die viel grundlegendere und zeitlich nicht eingeschränkte Eigenschaft des Fremd- und Andersseins als solches identifiziert.
Gesindel als Bezeichnung für die Unterschicht
Im späteren 19. Jahrhundert deutet sich hier freilich eine Fokusverschiebung im Wortgebrauch an: Gesindel wird im Zuge eines Klassenkampfs von oben
nunmehr auch für die Unterschicht der Gesellschaft, ja für den gesellschaftlichen Durchschnitt gebraucht, der dem Adel oder einer wie auch immer bestimmten sozialen oder geistigen EliteWGd entgegengesetzt wird (1883, 1901, 1909, mit sozialdarwinistischem Einschlag auch 1902). Ein Wort, das herkömmlicherweise für die Randgruppen einer Gesellschaft steht, wird nun dazu verwendet, größere Teile der Gesellschaft aus dieser gewissermaßen sprachlich herauszulösen und an den Rand zu drängen.
Die dem Wort inhärente Abwertung wird aber auch noch in eine andere Richtung ausgebaut. So finden sich mindestens ab dem späteren 18. Jahrhundert auch Übertragungen, die Gesindel auf sozial Höherstehende beziehen (vgl. etwa das Gesindel der Aristokraten im Beleg 1797a sowie die Belege 1834a, 1855, 1936). Indem die Privilegierten mit dem gesellschaftlichen Rand metaphorisch in eine Beziehung gesetzt werden, wird deren moralische Verkommenheit und das den Erwartungen an die eigene Klassenzugehörigkeit diametral entgegenstehende Verhalten hervorgehoben.
Schimpf- und Stigmawort
Von diesem Gebrauch ist der Weg nicht weit zur Verwendung von Gesindel als Beschimpfung (1882, 1931, 1958), die dann oft auch zur Diffamierung eines politischen Gegners eingesetzt wird (1921, 1933a, 1934). Gesindel ist damit zu einem Stigmawort in politischen Auseinandersetzungen vor allem in der Weimarer Republik geworden.
Eine Gruppe, die als Gesindel bezeichnet wird, gehört nicht dazu. Daher ist es wenig überraschend, dass das Wort auch als Instrument rassistischer Diffamierung genutzt wurde und wird. Der Grundstein dafür ist mindestens Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. So wird Gesindel in Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts
(1899) nicht nur in verächtlichem Sinn auf antike Völker des Vorderen Orients bezogen, die den biblischen Amoritern als angeblich europäischem Volk gegenübergestellt werden. Der Aspekt der Nicht-Zugehörigkeit
kann an dieser Stelle auch weitergehend interpretiert werden: Die genannten Völker sind nicht allein uneuropäisch
, sondern sind fast schon unmenschlich
, da im Kontext Europäer
und Mensch
weitgehend gleichgesetzt werden. In der Sprache des Nationalsozialismus entlädt sich das menschenverachtende und mörderische Potenzial dieses Wortgebrauchs dann vollends (1933b, 1940). Die feste Verbindung arbeitsscheues Gesindel dient hier besonders auch der Rechtfertigung von Zwangsarbeit (1941).
Das lustige Gesindel in romantischer Verklärung
Dass das Wort – wenn auch vergleichsweise selten – durchaus ins Positive gewendet werden kann, belegt die Verbindung lustiges Gesindel ausgelassen feiernde Menschenmenge
(1797b, 1834b, 1859). Hier wird im Zuge einer metonymischen Übertragung der Aspekt der Freiheit, des Ungebundenseins fokussiert, der mit einem Dasein am Rande der Gesellschaft verbunden sein kann. Diese Übertragung speist sich daher teilweise auch aus dem Klischee des (vermeintlich) romantisch-ungezwungenen Zigeunerlebens
.
Lumpengesindel
Seit dem frühen 17. Jahrhundert ist auch die Wortbildung Lumpengesindel bzw. Lumpengesinde bezeugt, die der abwertenden Lesart des Grundwortes weitgehend entspricht (vgl. 1609, 1689). Das Erstglied Lumpen- nimmt auf die typische Bekleidung der Bettler Bezug; damit wird also das bettelhafte, nichtswerte bezeichnet
(1DWB 6, 1293). Das Element Lumpen- tritt in einer Vielzahl von abwertenden Bildungen auf, die meist auf Personen oder Personengruppen bezogen sind (z. B. Lumpenkerl, LumpenpackWGd, Lumpengeselle, s. 1DWB 6, 1296. Lumpen- ist meist nicht wörtlich zu verstehen, etwa im Sinne von in Lumpen gekleidet
o. ä.; vielmehr kommt ihm eine übertragene (in diesem Fall metonymische) Bedeutung wertlos, armselig
zu. Es hat damit fast den Status eines Präfixes, mit dem eine negative Einstellung gegenüber dem Inhalt des Zweitglieds ausgedrückt werden kann.
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
Paul, Dt. Gr. Paul, Hermann: Deutsche Grammatik. Bd. 1–5. Halle a. d. S. 1916–1920.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Gesindel, Lumpengesindel.