Wortgeschichte
Die Weggefährten: Zur Herkunft von Gesinde
Gesinde hängt etymologisch mit althochdeutsch sind Weg
zusammen. Die Ausgangsbedeutung des Wortes ist daher wohl Gesamtheit der Begleiter, Gefährten auf dem gemeinsamen Weg, auf der Reise
(vgl. Pfeifer unter GesindeDWDS); althochdeutsch gesindi geht allerdings nicht direkt auf sind Weg
zurück; es handelt sich vielmehr zunächst um eine Kollektivbildung zu althochdeutsch gisindi, gisindo Gefährte
. Mit Letzterem ungefähr vergleichbar in Bedeutung und Wortbildung sind auch Gefährte und Geselle. Damit ist jeweils die Person gemeint, die sich gemeinsam mit jemandem auf einer Fahrt bzw. in einem Saal befindet.
Personenverbünde am Hof und im Haushalt
Im Mittelhochdeutschen bezieht sich das Wort im Wesentlichen auf zwei Formen von Personenverbünden: auf die Gefolgschaft eines Herrschers (die diesen z. B. auf einem Kriegszug begleitet)
sowie die Gemeinschaft der zu einem Haus- oder Hof gehörenden Personen
(vgl. MWB 1/2, 569). Unter die zweite Gruppe fallen in erster Linie die Bediensteten eines Haushalts bzw. Bauernhofes; freilich kann in einigen wenigen mittelhochdeutschen Belegen auch die FamilieWGd – in dem engeren Sinne einer Gemeinschaft von Blutsverwandten – so bezeichnet werden. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es aber auch eindeutige Belege dafür, dass Dienerschaft und Familie (d. h. Frau und Kinder eines Hausherrn) ausdrücklich voneinander unterschieden werden (vgl. FWB unter gesinde, jünger auch der Beleg 1605a).
Ab dem 14. Jahrhundert weitet sich das Spektrum der Verwendungsweisen insofern, als nicht nur Angehörige eines bäuerlichen Hofes, sondern auch Bedienstete anderer Wirtschaftseinheiten so bezeichnet werden; damit kann beispielsweise auch eine Gruppe von Handwerksgesellen, Gerichtsdienern oder auch von Angestellten einer Bank als Gesinde gelten (DRW 4, 543, vgl. auch FWB unter gesinde).
Bedeutungsverschlechterung
Eine weitere semantische Entwicklung innerhalb des Frühneuhochdeutschen stellt die Herausbildung einer abwertenden Lesart dar: Gesinde kann seit Beginn des 16. Jahrhunderts auch verwendet werden für Personen, deren Verhalten als unangemessen und verachtenswert verurteilt wird (vgl. 1552). Dies betrifft besonders Personengruppen, die am Rande oder außerhalb der Gesellschaftsordnung stehen. So ist in einem Beleg von 1615 die Rede von allerhandt Hernloß geſinde/ Gardebruͤder/ Landtſtreicher/ Muͤßiggenger/ Betteler/ Ziegener vnnd andere derogleichen, womit also vorwiegend umherziehende, in keiner klaren Bindung zu einer Herrschaft stehende Personen gemeint sind (vgl. auch 1700, 1725). Gesinde kann aber auch allgemein für sittenlose, ungebildete Personen der unteren Gesellschaftsschichten stehen (1653, 1656).
Die Genese dieser Bedeutungsverschlechterung ist nicht leicht nachzuzeichnen. Man könnte davon ausgehen, dass das abfällige Reden über Bedienstete, die sozial abhängig waren und die gewiss nicht zu der maßgeblichen gesellschaftlichen Schicht gehörten, den Ausgangspunkt für die Pejoration bildet. Belege für abwertende Benennungen von Bediensteten, die der Bedeutungsverschlechterung zeitlich vorausgegangen wären, sind indes nicht in einem nennenswerten Umfang vorhanden, auch wenn gelegentlich mit deutlich negativen Implikationen davon die Rede ist, dass Hausangestellte unwissend sind oder nicht gut haushalten (1605b, 1703). Eine breite Tradition abwertenden Redens über Hausangestellte ist auch grundsätzlich nicht zu erwarten, wenn man bedenkt, dass das Gesinde im Mittelalter und der Frühen Neuzeit fest zur Hausgemeinschaft gehörte und gerade nicht außerhalb der Gesellschaftsordnung zu verorten war (vgl. 2HRG 2, 319–325; LMA 4, 1402–1404). Eine Bedeutungsverschlechterung aufgrund von wiederholt abwertenden Äußerungen oder einer geringschätzenden Haltung gegenüber Bediensteten ist somit wenig wahrscheinlich.
Der Anfangspunkt der Bedeutungsverschlechterung dürfte deshalb eher an anderer Stelle zu suchen sein. In Frage kommen hier feste Wortverbindungen mit Gesinde in der im Mittel- und Frühneuhochdeutschen geläufigen Bedeutung Begleiter, Geselle
(s. o. und 1DWB). Diese enthalten oft negative Wertungen. So ist im Beleg von 1531 von des ertzteufels gesinde die Rede, d. h. wörtlich von den Begleitern, Gesellen
des Erzteufels (vgl. auch den Beleg 1520 mit ironischem Unterton). Möglich ist aber auch ein Ausgangspunkt in Reihungen wie kauffleut, reuter, papisten und solchs gesind (1530), wo Gesinde mit Volk, Leute
zu übersetzen ist, einer seit dem Mittelhochdeutschen belegten Lesart des Wortes. Ob es sich um diese oder um die eben genannten Verbindungen mit Gesinde Geselle
handelt: In beiden Fällen liegen Textumgebungen vor, die eine deutlich negative Wertung enthalten. Die Bedeutungsverschlechterung beim Wort Gesinde könnte dann dadurch zustande gekommen sein, dass diese Wertungen von der engeren sprachlichen Umgebung auf das Wort selbst übertragen worden sind.
Lexikalische Differenzierung und Monosemierung
Bis zum 17. Jahrhundert bleiben Belege für die abwertende Lesart des Wortes eher selten, nach ca. 1700 schwinden sie fast vollständig. Dies ist wohl damit zu erklären, dass die Ableitung GesindelWGd im Rahmen einer semantischen Variantendifferenzierung sich gewissermaßen auf die negative Lesart spezialisiert, während Gesinde im Wesentlichen auf die neutrale Bedeutung Gesamtheit der Bediensteten
festgelegt wird.
Gesinde hat im Laufe der neuhochdeutschen Sprachgeschichte nicht allein die abwertende Bedeutung weitestgehend eingebüßt; auch die anderen Verwendungsweisen, die in den Wörterbüchern zu den älteren Sprachstufen dokumentiert sind (etwa Gefolgschaft
, Familie
, Volk
, Bedienstete eines Wirtschaftsbetriebs
) schwinden vollständig, so dass insgesamt von einer Monosemierung des semantischen Spektrums gesprochen werden kann. Im Ergebnis dieses Reduktionsprozesses steht Gesinde seit ca. 1600 im Großen und Ganzen nur noch für Gemeinschaft der Bediensteten in einem Haushalt
.
Bezeugungsrückgang seit 1600
Abb. 1: Wortverlaufskurve „Gesinde“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Neben der Monosemierung – und teilweise wohl auch als deren Begleiteffekt – ist als weiterer wichtiger Zug der Wortgeschichte von Gesinde der signifikante und kontinuierliche Rückgang in der Bezeugungshäufigkeit seit 1600 zu nennen (s. die Wortverlaufskurve in der Abb. 1). Ein Grund für diese Entwicklung mag neben der Einengung des Bedeutungsspektrums auch darin zu sehen sein, dass zahlreiche konkurrierende Bezeichnungen für soziale Abhängigkeitsverhältnisse bestehen bzw. aufkommen, so etwa das Kollektiv Personal bzw. Lakai, Angestellter, Bediensteter, Dienstbote. Gesinde blieb ferner überwiegend auf die Sphäre des Bäuerlichen beschränkt. Mit der Ablösung der traditionellen, auf eine große Zahl von Helfern angewiesenen Landwirtschaft durch die maschinelle Landwirtschaft verloren abhängig Beschäftigte signifikant an Bedeutung.
Literatur
DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
FWB Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Robert R. Anderson [für Bd. 1]/Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [ab Bd. 5], Oskar Reichmann. Bd. 1 ff. Berlin u. a. 1986 ff. (fwb-online.de)
2HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig neu überarbeitete und erweiterte Aufl. hrsg. von Wolfgang Cordes u. a. Bd. 1 ff. Berlin 2008 ff. [HRG digital. Berlin 2010 ff.]. (HRGdigital.de)
LMA Lexikon des Mittelalters. Lizenzausg.; Unveränd. Nachdr. 2009 der Studienausg. 1999. Bd. 1–9. Darmstadt 2009 (Online-Ausgabe). (brepolis.net.bwkkj9fe000d.han.sub.uni-goettingen.de)
MWB Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftr. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Hrsg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann. Bd. 1ff. Stuttgart 2006 ff. (mhdwb-online.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Gesinde.