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Gemeinsinn Gemeingeist

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Bei Gemeinsinn handelt es sich zunächst um eine Lehnübertragung zu lateinisch sensus communis, die besonders in philosophischen Schriften der Aufklärung präsent ist. Zuvor ist bereits die Wortverbindung gemeiner Sinn in entsprechender Bedeutung belegt. Ab dem 18. Jahrhundert ist für Gemeinsinn daneben die Lesart gesunder Menschenverstand nachweisbar, die unter Einfluss des englischen common sense entsteht. Jünger ist die Bedeutung Sinn und Einsatz für das Gemeinwohl, die ihrerseits von dem älteren Gemeingeist, einer Lehnübersetzung zu englisch public spirit, beeinflusst ist.

Wortgeschichte

Von sensus communis und gemeiner Sinn zu Gemeinsinn. Frühe Bezeugungen

Das Substantiv Gemainsin bzw. Gemeinsinn ist zwar zumindest in Glossaren (1436; vgl. auch FWB-online unter gemeinsin, der) und Wörterbüchern (Stieler, 2031) bereits ab dem 15. Jahrhundert vereinzelt nachweisbar, scheint bis ins 18. Jahrhundert hinein jedoch insgesamt nur punktuell bezeugt zu sein. Als Bedeutung gibt Kaspar von Stieler Ende des 17. Jahrhunderts in seinem Wörterbuch Der Teutschen Sprache Stammbaum sensus communis an. Die Buchung verdeutlicht, dass es sich hier um eine Lehnübersetzung zum lateinischen Terminus sensus communis handelt.

Zuvor ist häufiger die Kollokation gemeiner Sinn in deutschsprachigen Quellen nachweisbar (1516, 1664). Es handelt sich hier um eine Bildung aus gemein in der älteren Bedeutung gemeinsam, allgemein (vgl. zum breiten Bedeutungsspektrum von gemein DWDS unter gemeinDWDS, Pfeifer unter gemeinDWDS sowie detailliert die Buchung in 1DWB 5, 3169) sowie Sinn, dessen Bedeutungsspektrum Fähigkeit, Reize zu empfinden, Denken, Gedanken, Gesinnung, Gemüt, Verstand, geistiger Inhalt umfasst (vgl. Pfeifer unter SinnDWDS). Insgesamt deckt die Kollokation ein recht breites semantisches Spektrum ab, in dem die verschiedenen, von allgemein und gemeinsam bis niederträchtig reichenden Bedeutungen von gemein zum Tragen kommen (1516, 1624, 1689, 1771), begegnet dabei aber ihrerseits auch als deutsche Entsprechung zu sensus communis (1664, 1691).

Ab dem 18. Jahrhundert steigt die Anzahl der Belege auch für das Substantiv Gemeinsinn (1780a, 1790a, 1797a). Der Ausdruck ist zu dieser Zeit zunächst – neben sensus communis – gerade auch in philosophischen Schriften der Aufklärung präsent (1790b), wobei sein terminologischer Gebrauch […] bis zu Beginn des 19. J[ahrhunderts] vom Bewußtsein begleitet [bleibt], daß der lateinische Ausdruck im Deutschen keine adäquate Entsprechung hat, und entsprechend der lateinische Ausdruck auch weiterhin in Gebrauch bleibt (HWPh 3, 243). Gemeinsinn ist im Übrigen nicht die einzige deutsche Entsprechung zu sensus communis; daneben sind etwa gemeiner Sinn oder gesunde Vernunft auch weiterhin gebräuchlich (vgl. HWPh 3, 244). Der Ausdruck, der in der Philosophie insbesondere ein allgemeines Wahrnehmungsvermögen bezeichnet, das die einzelnen Sinneswahrnehmungen vereinheitlicht, begegnet in Quellen des 18. Jahrhunderts in entsprechenden Verwendungen (1780b).

Die DWDS-Wortverlaufskurve zeigt einen anhaltenden Anstieg der Bezeugungsfrequenz von „Gemeinsinn“ auch nach 1790.

Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu „Gemeinsinn“

DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)

Zwar verliert Gemeinsinn im engeren fachlichen Bereich der Philosophie nach 1790 an Bedeutung (vgl. HWPh 3, 243–246), zugleich lässt sich allgemeinsprachlich aber ein Gebrauchsanstieg verzeichnen, der bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts anhält (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).

Die Bedeutung allgemeiner Menschenverstand

Spätestens im 18. Jahrhundert wird Gemeinsinn auch in der Bedeutung gesunder Menschenverstand gebraucht (1780a, 1792, 1794a). Diese Lesart entsteht wahrscheinlich unter Einfluss des englischen Ausdrucks common sense (vgl. hierzu Ganz 1957, 83 sowie 25Kluge, 345), jedenfalls begegnen in den Quellen Verwendungen, in denen Gemeingeist als deutsche Entsprechung von common sense angegeben wird (1790a, 1912a). Im Englischen ist common sense bereits seit dem 16. Jahrhundert belegt (vgl. 3OED unter common sense, n. and adj.).

Sinn und Einsatz für das politische und/oder gesellschaftliche Gemeinwohl. Die politisch-gesellschaftliche Bedeutungslinie

Auch die heute verbreitetste Bedeutung Sinn und Einsatz für das politische und/oder gesellschaftliche Gemeinwohl ist spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert nachweisbar (1803a). Dabei kann Gemeinsinn sich in dieser Lesart zum einen auf ein gesamtgesellschaftliches Wohlergehen – Bezugsgröße ist hier das Abstraktum Gesellschaft – beziehen (1835a). In dieser Verwendung begegnet das Substantiv bis in die Gegenwart (1970, 2012). Gemeinsinn erscheint hier im Übrigen nicht zuletzt auch als Wert (2000, 2002). Daneben kann sich Gemeinsinn in der gesellschaftlichen Dimension auch auf Sinn und Einsatz für das Wohlergehen gesellschaftlicher Teilgruppen als Bezugsgröße (1856, 1906, 1997) beziehen.

Zum anderen kann sich Gemeinsinn in dieser Lesart auch auf ein politisches Wohlergehen einer Gesellschaft bzw. eines Staates beziehen (1797a, 1875, 1921). Die jeweils konkreten politischen Bedeutungsaspekte einer Verwendung sind dabei auch und gerade vor dem Hintergrund des jeweiligen politischen Systems zu verstehen. So begegnet das Wort beispielsweise im Verlauf des 19. Jahrhunderts in inhaltlichem Bezug zu Kategorien wie Volk (1797b, 1837, 1886), Nation bzw. Vaterland (1850, 1900) oder Patriotismus (1848). Häufiger ist das Wort zudem in Zusammenhang mit BürgerWGd (1844a) bzw. bürgerlichWGd (1844b) bezeugt. Sowohl im NS-Sprachgebrauch (1934, 1935) als auch in Bezug auf den Sozialismus (1972) verbinden sich Vorstellungen des – entsprechend der jeweils vorherrschenden politischen Ausdeutung – Kollektivs mit dem Ausdruck. Im bundesrepublikanischen Gebrauch trägt das Wort dahingegen eher freiheitlich-demokratische Bedeutungsaspekte (1962). Nicht zuletzt kann Gemeinsinn ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf übernationale Ebene, genauer auf Europa, bezogen werden (1981).

Gemeingeist, Korpsgeist, Bürgersinn. Semantisches Feld um 1800

Die jüngere Lesart Sinn und Einsatz für das Gemeinwohl entsteht wohl unter Einfluss des älteren Gemeingeist (vgl. 25Kluge, 345–346). Bei Gemeingeist handelt es sich um eine Lehnübersetzung aus dem Englischen, hier aus public spirit (1795; vgl. 25Kluge, 345 sowie Ganz 1957, 82), das in der Bedeutung Bereitschaft, im besten Interesse der Gemeinschaft zu handeln, ohne dass ein persönlicher Vorteil daraus erwächst seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist (vgl. 3OED unter public, adj. and n.). Adelung bucht Gemeingeist Ende des 18. Jahrhunderts mit der Bedeutung ein erst in den neuern Zeiten gebildetes Wort, eine allgemein verbreitete lebhafte und thätige Theilnahme an der gemeinschaftlichen Wohlfahrt zu bezeichnen (vgl. 2Adelung 2, 551).

Frühe Belege zu Gemeingeist, das hier bedeutungsgleich zu Gemeinsinn ist (1809), zeigen entsprechend bisweilen noch einen Bezug zu England (1794b). Daneben stehen allerdings auch solche Verwendungen, in denen Gemeingeist als deutsche Entsprechung für das Französische ésprit de corps genannt wird (1796, 1855). Entsprechend ergeben sich zu dieser Zeit mindestens partiell auch semantische Überschneidungen zu Korpsgeist (1912b; vgl. daneben andererseits allerdings auch die Abgrenzung von Korporationsgeist in 1835b), das als Lehnübersetzung zu ésprit de corps seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Deutschen belegt ist.

Nicht zuletzt hat Gemeinsinn semantische Berührungspunkte zu BürgersinnWGd (1803b, 1887, 1982), das seinerseits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Deutschen als Entsprechung zur Lehnbildung ZivismusWGd belegt ist, ohne dass es dabei in einem vollständig synonymen Verhältnis aufgeht (1899).

Literatur

2Adelung Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 2. vermehrte und verbesserte Ausg. Bd. 1–4. 2. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1793–1801. Hildesheim u. a. 1990. (woerterbuchnetz.de)

1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)

DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)

FWB-online Frühneuhochdeutsches Wörterbuch/FWB-online. Hrsg. von Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann, Oskar Reichmann. 2017 ff. (fwb-online.de)

Ganz 1957 Ganz, Peter F.: Der Einfluss des Englischen auf den deutschen Wortschatz. Berlin 1957.

HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.

25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)

Stieler Stieler, Kaspar von: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz/ Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter/ so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn/ nebst ihrer Ankunft/ abgeleiteten/ duppelungen/ und vornemsten Redarten/ mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. […] Nürnberg 1691. (mdz-nbn-resolving.de)

Belegauswahl

Sensus communis der gemainsinn […] verstantnúst

Bremer, Ernst unter Mitw. v. Klaus Ridde: Vocabularius optimus. Band II: Edition. Tübingen 1990. S. 64.

Verruchter Geiz! O Hunger, zu erwerben!
Mich wundert’s wenig, daß gemeiner Sinn
(Bei dem bricht alles Gute ja in Scherben)
Gefangen bleibt in deinen Netzen drin:
Doch reißt der gleiche Strick auch zum Verderben,
Der gleiche Griff der Klaue einen hin,
Den man, wenn er nur dir entgangen wäre,
Von hohem Geiste nennte, wert der Ehre.

Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke. Bd. 3. Berlin 1922 [1516], S. 307.

Ja Gott den niemand kennt/ vnd kein gemeiner sinn Kan fassen/ der kömpt selbst in vns vnd wir in jhn.

Opitz, Martin: Teutsche Pöemata und: Aristarchvs Wieder die verachtung Teutscher Sprach […]. Straßburg 1624, S. 238. (deutschestextarchiv.de)

Deßwegen hat die fürsichtige Natur nicht nur fünff äusserliche Sinne den Menschen ertheilet / vermittelst welcher das Gegenwertige erkennet wird / sondern auch den gemeinen Sinn (sensum communem) alles zu unterscheiden / die Bildungs-Kräffte das abwesende fürzumahlen / und die Gedächtniß solches Gemähl zuerhalten / ertheilet.

Harsdörffer, Georg Philipp: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte. Bd. 2. Frankfurt a. M./Hamburg 1664, S. 528.

Es ist mehr eine Unvernunfft / als Bescheidenheit den Platz der Ehren denen Boßhafften zum Vortheil leer lassen. Und ein Abgang des gemeinen Sinnes lieber wollen böse geführt seyn / als selbst einen guten Führer abgeben.

Lohenstein, Daniel Caspar von: Großmütiger Feldherr Arminius. Zweyter Theil. Leipzig 1690 [1689], S. 920.

Was aber die gemeinen innerlichen Sinne betrifft/ davon ist der erste/ nemlich der gemeine Sinn (sensus communis) nichts anders als mein euserlicher Sinn/ die phantasie und Gedächtnüß aber gehören theils zu dem innerlichen Sinne/ theils zu denen thätigen Gedancken.

Thomasius, Christian: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Halle (Saale) 1691, S. 106. (deutschestextarchiv.de)

Jst im gemeinen Sinn ein kleiner Raum oder Platz neben einem großen Hauptplatz.

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig 1771, S. 7. (deutschestextarchiv.de)

Wir beweisen nicht einmal weiter unsern Anfängern im Religionsunterricht die Einheit Gottes, setzen sie mehr als bekannt und zum christlichen Gemeinsinn gehörig voraus.

Teller, Wilhelm Abraham: Vorerinnerungen zur dritten Auflage. In: Ders.: Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre. Dritte durchaus verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1780, S. III – XLIII, hier S. XXXVIII. (books.google.de)

Sammeln, dem Verstande darstellen, dem Gedächtnisse einprägen, und wieder herausnehmen, sind daher lauter Werke der Einbildungskraft; und der Gemeinsinn, wie die Erinnerungskraft, gehören also zu ihr; und sind keine von ihr abgesonderten Kräfte, wie einige wollen, um mehr als drey Kräfte der vernünftigen Seele anzunehmen.

Charron, Peter: Die wahre Weisheit, oder Sittenlehre des Weltbürgers. Erster Theil. München 1780, S. 122. (books.google.de)

Wenn also sonst Hume’s Grundsatz wahr ist; und er dabei richtig geschlossen hat, so müssen wir die Folgen zugeben, unser common sense mag sie billigen, oder nicht. Die allgemeine Formel lautet allemal: „Wenn der Grund wahr ist, so sind auch alle seine Folgen wahr“, und wenn daher euer Gemeinsinn die Sätze CDE u. s. w. verwirft, und einen andern Satz A, der ihr allgemeiner Grund ist, billiget, so begeht euer Gemeinsinn einen wahren Widerspruch; ihr könnt ihn also nicht anders retten, als vermittelst einer scharfen und gelehrten Prüfung.

Jakob, Ludwig Heinrich: Kritische Versuche über David Hume’s erstes Buch der Abhandlung über die menschliche Natur. In: Hume, David: David Hume über die menschliche Natur aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks von Ludwig Heinrich Jakob. Bd. 1. Über den menschlichen Verstand. Halle 1790, S. 532–843, hier S. 540. (books.google.de)

Alſo muͤſſen ſie ein ſubjectives Princip haben, welches nur durch Gefuͤhl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeinguͤltig beſtimme, was gefalle oder misfalle. Ein ſolches Princip aber koͤnnte nur als ein Gemeinſinn angeſehen werden, der vom gemeinen Verſtande, den man bisweilen auch Gemeinſinn (ſenſus communis) nennt, weſentlich unterſchieden iſt, indem letzterer nicht nach Gefuͤhl, ſondern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach ihnen, als nur dunkel vorgeſtellten Principien, urtheilt.

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin/Libau 1790, S. 63. (deutschestextarchiv.de)

Ein alter Schweitzer kommt von der Suͤdseite, der brave Pole von der Ostseite Europens, koͤnnen sie zusam men Suͤdost machen, so kanns durch eine Nordwestpassage in eine neue Welt des Verstandes, der Vernunft, des Gemeinsinnes der Menschheit gehen, die alte im Frieden hinter sich, plus ultra in infinitum!

Moritz, Karl Philipp/Pockels, Carl Friedrich/Maimon, Salomon (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Neunten Bandes drittes Stück. Berlin 1792, S. 86–87. (deutschestextarchiv.de)

Irrthum und Wahrheit sind für uns fast so unzertrennlich wie Seele und Leib, wie die Kraft und die Schranken des Daseyns; allein von menschlichen Dingen menschlich zu reden, bliebe doch das Land, das Volk, die Verfassung, unserer höchsten Achtung werth, wo das wenigste Vorurtheil herrscht, wo der meiste Gemeinsinn, der thätigste Verstand, der blühendste Wohlstand, sich gleichförmig ausgebreitet haben und nicht etwa nur eine privilegirte Klasse von Menschen auf Kosten des großen Haufens beglücken.

Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790. Dritter Theil. Berlin 1794, S. 4–5. (deutschestextarchiv.de)

Die Englaͤnder handeln bey allen oͤffentlichen Vorfaͤllen mit einem Gemeingeiſt, der ihnen Ehre macht.

Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Zweiter Theil. Riga 1794, S. 501. (deutschestextarchiv.de)

Der Gemeingeiſt (public spirit) vermindert ſich außerordentlich, kommt je mehr und mehr aus der Mode, und wird noch mehr abnehmen, wenn er aufhoͤrt, von einer guten Moral und der wahren Religion, wie ſelbſt die geſunde Vernunft ſie uns lehrt, unterſtuͤtzt zu werden.

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Fünfte Sammlung. Riga 1795, S. 8. (deutschestextarchiv.de)

Mehrere auf einander folgende Despoten bilden allmählig bey ihren Ministerien, Collegien und ganzen Dienerschaft diejenige Denkungs-Art und Handels-Weise, die man bey dem Soldatenstand und in andern Staats-Gesellschaften Esprit de Corps, Spirit publik, Gemeingeist, auch wohl bey niedern Classen Zunftgeist benennt.

Moser, Friedrich Carl von: Politische Wahrheiten. Erstes Bändchen. Zürich 1796, S. 200. (deutschestextarchiv.de)

Die Societaͤten verbanden ſich nach und nach unter ſich ſelbſt z. B. die ſociété zu Lyon ſchrieb nach Vienne, nach Challons, nach Châlons, nach Mâcon u. ſ. w. theilte den dortigen ſociétés ihre Meynungen mit, und dieſe ließen die zu Lyon — ihre Gedanken wieder wißen. So formirte ſich der Gemeinſinn und die bruͤderliche Einigkeit unter allen Franzoſen. Sie wurden mit einander genauer bekannt, und ſuchten es einander in Patriotismus zuvor zu thun.

Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Vierten Theils erste Abtheilung, welche die Fortsetzung von dessen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich enthält. Leipzig 1797, S. 103. (deutschestextarchiv.de)

Die ehrlichen, oder wenn man anders will, die fuͤr das Volk redlich geſinnten Glieder der Verſammlung, ſo wie viele andre Verfechter der Freyheit ſahen endlich ein, daß ſie durch die Aſſemblée unmoͤglich erhalten, geſchuͤzt und befoͤrdert werden koͤnnte, und ſuchten eben darum das Heil des Volkes in den Volksſocietaͤten allein: das Volk ſollte und mußte, wie die Erfahrung zeigte, ſich durch Gemeinſinn und thaͤtiges Mitwirken ſelbſt retten.

Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Vierten Theils erste Abtheilung, welche die Fortsetzung von dessen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich enthält. Leipzig 1797, S. 111. (deutschestextarchiv.de)

Ein eigener Ideengang, den freylich Leute nehmen können, die ohne Gemeinsinn gern viel Geld sicher unterbringen wollen.

Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig/Leipzig 1803, S. 39. (deutschestextarchiv.de)

Wo ſind die Früchte unſerer gerühmten Cultur, Menſchenliebe, Gemeingeiſt, ächter Bürgerſinn und edle Reſignation auf eigenes Intereſſe, wenn es auf Rettung Anderer ankommt?

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle (Saale) 1803, S. 16. (deutschestextarchiv.de)

Eine gute, zweckmaͤßige Haus-, Land- und Feldpolizey, die gegen den Ueberlauf von Vagabonden ſchuͤtzt, das Eigenthum gegen Diebesbanden und moͤglichſt gegen alle Gefahren ſichert, die Pflicht der Armen-Erhaltung erleichtert, den mangelnden Gemeingeiſt zwar durch Zwangsmittel erſetzen muß, aber nicht in fiskaliſche Vexation ausartet, nicht auf laͤngſt widerlegte Vorurtheile fußt, nicht nach veralteten Formen, ſondern nach vernuͤnftigen Gruͤnden verfaͤhrt, ihr Abſehen nicht auf Strafgebuͤhren, ſondern auf den Zweck richtet, iſt von großem Werthe.

Thaer, Albrecht Daniel: Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. Bd. 1. Begründung der Lehre des Gewerbes. Oekonomie oder die Lehre von den landwirtschaftlichen Verhältnissen. Berlin 1809, S. 72. (deutschestextarchiv.de)

Der geſellſchaftliche Verband der Menſchen geht nur aus dieſen Gründen hervor, und wird durch das Prinzip des Eigennutzes und des Gemeinſinnes erhalten.

Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Handbuch der Kameralwissenschaften und ihrer Literatur für Rechts- und Verwaltungs-Beamten, Landstände, Gemeinde- Räthe und Kameral-Candidaten. Heidelberg/Leipzig 1835, S. 53. (deutschestextarchiv.de)

Die moraliſchen Zwecke ſind ohne Zweifel ſehr gut, allein der erwünſchte Gemeinſinn geht in einem verwünſchten Corporationsgeiſt über und manche Mittel dazu, als Abhaltung der unehelichen Kinder und Juden vom Handwerke, ſinnloſe und unſittliche Gebräuche der Bruderſchaft, Oppoſitionsgeiſt u. dgl., widerſprechen denſelben.

Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Handbuch der Kameralwissenschaften und ihrer Literatur für Rechts- und Verwaltungs-Beamten, Landstände, Gemeinde- Räthe und Kameral-Candidaten. Heidelberg/Leipzig 1835, S. 672–673. (deutschestextarchiv.de)

Ohne Aufforderung gab Jeder, was er zu geben vermöchte, und so sah man überall einen Gemeinsinn, wie ihn ein Volk zeigt, in welchem ein Jeglicher den Andern in brüderlicher Eintracht umschlingt.

Vormbaum, Friedrich: Die brandenburgisch-preußische Geschichte. 4. Aufl., Leipzig 1837, S. 256. [DWDS] (gei.de)

Die Erziehung der Jugend, die immer ein nationales Gepräge haben muß, kann nur von gemeinſchaftlich, öffentlich getriebenen Leibesübungen ausgehen, welche der Gemeingeiſt der Bürger in Schutz nimmt.

Jahrbücher der deutschen Turnkunst 2 (1844), S. 136. (deutschestextarchiv.de)

Dieſes kann nur eine Aſſociation von Gleichgeſinnten erreichen, und es eröffnet ſich dem bürgerlichen Gemeingeiſt hier wieder ein neuer würdiger Wirkungskreis.

Jahrbücher der deutschen Turnkunst 2 (1844), S. 135. (deutschestextarchiv.de)

Freilich ist nichts auf dieser Erde vollkommen, und so wird auch bei dieser Wählart manche Jntrigue gespielt, und natürlich desto mehr, je tiefer die Wähler in politischer Ausbildung, Gemeinsinn und Patriotismus stehen.

Allgemeine Auswanderungs-Zeitung (1848), Sp. 115–116. (deutschestextarchiv.de)

Mit dem nationalen Gefühle und der Selbstständigkeit nach Außen schwanden auch Gemeinsinn und die Liebe zum Vaterlande bei den Teutschen in der Art, daß man bald die väterliche Sprache und Sitten mit denen der Franzosen vertauschte.

Beck, Joseph: Geschichte der Teutschen und der vorzüglicheren europäischen Staaten, für höhere Unterrichtsanstalten. Mit besonderer Rücksicht auf Geographie und Literatur. Zweite Abtheilung: Die neuere Geschichte. 2. Aufl. Hannover 1850, S. 51. [DWDS] (gei.de)

Gemeingeist, entweder das französ. esprit de corps (s. Esprit) od. das engl. public spirit und in diesem Falle so viel als Vaterlandsliebe.

N. N.: Herders Conversations-Lexikon. Bd. 3. Freiburg im Breisgau 1855, S. 45. (deutschestextarchiv.de)

In ersterer Hinsicht geben sie nicht selten Anregung zur gründlichen Analyse schwieriger Controversen und auf der andern Seite heben sie ebensosehr das Interesse einzelner Clubmitglieder am Spiele, wie sie den Gemeinsinn der Spieler und das Zusammenwirken der Gesellschaften fördern.

Lange, Max: Lehrbuch des Schachspiels. Halle (Saale) 1856, S. 245. (deutschestextarchiv.de)

Jedem Engländer ist Gemeinsinn eigen im strengsten Sinne des Worts, der sich in der treuen Erfüllung der Pflichten gegen den Staat zeigt.

Berthelt, August u. a.: Lebensbilder IV. Lesebuch für höhere Bildungsanstalten. 5. Aufl. Leipzig 1875, S. 582. [DWDS] (gei.de)

Dem Volke fehlte der rechte Gemeinsinn; der Einzelne sah den Staat als etwas an, was ihn nichts angehe.

Biedermann, Karl: Deutsche Volks- und Kulturgeschichte für Schule und Haus. 3. Theil: Von Karl V. bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaisertums (1519–1871). Wiesbaden 1886, S. 154. [DWDS] (gei.de)

Was um Gottes Willen sollte denn daraus entstehen, wenn jeder sich für alle diese Vereinsbestrebuugen gleichmäßig interessiren, allen beitreten wollte – in den meisten Fällen natürlich ohne jeden innern Beruf und Drang, nur um seinen „Bürgersinn“ und „Gemeinsinn“ zu bethätigen?

Die Grenzboten 46/2 (1887). (deutschestextarchiv.de)

Der Sinn für Regel und Ordnung ist dem normal entwickelten Kinde dieses Alters natürlich, ebenso wie jener dem Bürgersinn vorarbeitende Gemeinsinn, wie er in den festen Organisationen des Hauses, mehr aber der Schule, dem verkleinerten Abbild einer bürgerlichen Gemeinschaft, sich jetzt bestimmter herauszubilden Gelegenheit hat.

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. Stuttgart 1899, S. 257. (deutschestextarchiv.de)

Mangel an Gemeinsinn und an Bewußtsein ihrer nationalen Aufgabe zeichnet leider noch immer die Deutschen des Auslandes vor anderen Nationen aus.

Wintzer, Wilhelm: Die Deutschen im tropischen Amerika (Mexiko, Mittelamerika, Venezuela, Kolumbien, Ekuador, Peru und Bolivien): mit Übersicht über die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Länder. München 1900, S. 60. (suub.uni-bremen.de)

Sie kommen in zahlreichen Vereinen zum Ausdrucke und dienen wissenschaftlicher, ernster und vorwärtsstrebender Arbeit, Pflege des Gemeinsinnes unter Orts- und Berufsgenossen, des Turnens, des Gesanges und einem herzlichen, geselligen Verkehre, der sich bei uns frei und vorurteilslos gestaltet.

Gemeinnütziger Verein zu Coswig (Hrsg.): Führer durch Coswig, Kötitz, Neu-Coswig und Umgegend. Kötzschenbroda-Dresden 1906, S. 16. (deutschestextarchiv.de)

B. ist ein Vertreter der Schottischen Schule, welche (gegen Hume) in dem »Gemeinsinn« (common sense) die Quelle der allgemeinsten Grundsätze sieht, welche »selbstgewiß« sind.

Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. In: Bertram, Mathias (Hrsg.) Geschichte der Philosophie. Berlin 2000 [1912], S. 21071. [DWDS]

IV. Frauenpflichten. in einer Gemeinschaft vollzogener und der Gemeinschaft wieder zugute kommender persönlicher Dienst, bietet eine solche Arbeit zugleich etwas, was ähnlich wie der Leerdienst den Gemeingeist (Korpsgeist) stärkt.

Bruns, Max/Ernst Borkowsky/Ludwig Korodi: Deutsches Lesebuch für Lyzeen und höhere Mädchenschulen. Bd. 6. Neue Ausgabe. Poesie und Prosa. Hrsg. von Ernst Borkoesky. Berlin 1912, S. 346. [DWDS] (gei.de)

Und wenn hierdurch der neue gesellschaftliche Aufbau gefördert wird, so ist drittens der Anteil des Arbeiters an der Gemeinde, der Keimzelle des Staates, der natürliche Anfang staatlichen Verständnisses und verantwortlichen Gemeinsinnes.

Die Grenzboten 80/2 (1921), S. 78. (deutschestextarchiv.de)

Das hat auch Freiherr vom Stein gewußt und sicher gerade deshalb die Mitwirkung der Staatsbürger in der Verwaltung gefordert, um sie zur Verantwortung für die allgemeinen Interessen und zum Gemeinsinn zu erziehen. Der Nationalsozialismus nimmt Steins Gedanken mit größerem Recht für sich in Anspruch als die Demokratie, wobei zu beachten bleibt, daß der Nationalsozialismus seine Weltanschauung aus unserem Schicksal und Wesen ursprünglich neugeboren und nicht Stein nachgebildet hat.

Völkischer Beobachter (Berliner Ausgabe), 3. 3. 1934, S. 15. [DWDS]

An ihre Stelle treten Gemeinsinn, Kameradschaft, Sozialismus, Treue im Innern, Ehren, Recht und Frieden nach außen.

Völkischer Beobachter (Berliner-Ausgabe), 2. 3. 1935, S. 18. [DWDS]

Dazu gehört auch die Fortentwicklung einer freiheitlichen und sozialen Gesellschaftsordnung, die mehr Gemeinsinn für Gemeinschaftsaufgaben erfordert.

Archiv der Gegenwart 32, 23. 3. 1962, S. 9756. [DWDS]

Ihnen auch begreiflich zu machen, daß heutzutage zum Geschäftssinn auch der Gemeinsinn zu treten habe, war weit schwieriger; es ist denn auch nicht gelungen.

Die Zeit, 15. 5. 1970, Nr. 20. [DWDS] (zeit.de)

Beseitigung von Konkurrenz und Existenzangst fördern die natürliche gegenseitige Hilfsbereitschaft zutage; sozialistische Gemeinschaftsarbeit im Betrieb und in der Genossenschaft bilden Gemeinsinn und Freude an schöpferischer Arbeit aus; die Tätigkeit zur Erfüllung des Planes orientiert den einzelnen auf das Ganze des Betriebes und der Gesellschaft; die Einbeziehung in die Angelegenheiten des Betriebes, der Gemeinden und des Staates auf vielfältige Weise unterstützen Bildungsstreben und Verantwortungsgefühl weit über die persönlichen Interessen hinaus.

Einheit 27 (1972), Nr. 7, S. 851. [DWDS]

Die kühle Premierministerin steht nicht allein auf der Liste der Sünder wider den europäischen Gemeinsinn.

Die Zeit, 27. 3. 1981, Nr. 14. [DWDS] (zeit.de)

Weniger Staat – mehr Selbstverantwortung, „weg von kollektiven Lasten, hin zu persönlicher Leistung“, „Bürgersinn“, „Bürgerverantwortung“, „Gemeinsinn“ – so lauten einige aufmunternde Leitworte Kohls.

Die Zeit, 22. 10. 1982, Nr. 43. [DWDS] (zeit.de)

„Bürgerschaftliche Initiative – freiwilliges Engagement“ heißt eine neue, bundesweit agierende Arbeitsgruppe, die künftig die Bereitschaft zu ehrenamtlichen Tätigkeiten nicht nur fördern, sondern mit der „Aktion Gemeinsinn“ den Bürgern bei der Suche nach einem Ehrenamt helfen will.

Berliner Zeitung, 15. 5. 1997. [DWDS]

In der Schule und in ihrem Umfeld werden die Werte „Solidarität, Ehrlichkeit, Fairness und Gemeinsinn“ trainiert.

Berliner Zeitung, 15. 7. 2000. [DWDS]

Auch wenn er Werte wie Gemeinsinn, Geborgenheit, Heimatliebe und einen aufgeklärten Patriotismus stärken will, wenn er einen „Bewusstseinswandel“ bewirken will, zugunsten der „traditionellen Familie“.

Der Tagesspiegel, 31. 1. 2002. [DWDS]

Angeprangert werden unter anderem die Macht des Finanzkapitalismus, Entartung des Wettbewerbs, soziale Ungerechtigkeit, Rückschritt des Gemeinsinns, Fremdenhass, Umweltverschmutzung.

Die Zeit (online), 6. 3. 2012. [DWDS] (zeit.de)