Wortgeschichte
Der Gegensatz zum Militärischen
Das Wort Zivilcourage lässt sich zuerst für die 1860er Jahre belegen (1863, 1864, 1876). Es wird hier in einen unmittelbaren Gegensatz zum Mut auf dem Schlachtfeld gestellt. Zivilcourage bedeutet somit zunächst Mut, den jemand auf nicht-militärischem Gebiet aufbringt
, später gelegentlich auch Mut, der gegen das Militär gerichtet ist
(1922; zu Courage Mut
s. auch 2DWB 5, 1166DWDS). Der Gegensatz zum Militärischen ist zwar auch in späteren Belegen noch sporadisch zu greifen (1920, 1943, vgl. auch 1952), er tritt jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund: Zivilcourage ist nunmehr überwiegend der Mut, gegenüber großen Widerständen seinen Standpunkt zu vertreten
(1927, 1934, 1956).
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Mit diesem Bedeutungswandel, den man als metonymisch beschreiben kann, geht offenbar auch eine Verschiebung der Motivationsbasis einher: Zivil- wird nicht länger auf das Adjektiv zivilWGd nicht-militärisch
bezogen, sondern teils auch mit lateinisch cīvīlis bürgerlich, staatsbürgerlich
in Verbindung gebracht (1999). Für das deutsche Adjektiv zivil ist die Bedeutung bürgerlich
allerdings kaum etabliert, hier wird eher auf etymologisches Wissen zurückgegriffen. Entsprechend wird Zivilcourage zuweilen mit Bürgersinn gleichgesetzt (1994b) oder - in polemischer Zuspitzung - auch mit Mut zur Bürgerlichkeit
wiedergegeben, vgl. HWPh 12, 1364.
Kennzeichnend für den Wortgebrauch sowohl der älteren wie der jüngeren Zeit ist dabei, dass oftmals ein Mangel an Zivilcourage, ein Fehlen dieser durchweg positiv bewerteten Eigenschaft thematisiert wird (vgl. 1864, 1954, 2002).
Seit den 1990er Jahren verschiebt sich die Bedeutung nochmals leicht: Zivilcourage steht zunehmend nicht allein für die mutige Artikulation eines eigenen Standpunkts, sondern auch für ein helfendes Eintreten für andere in konkreten Gefährdungssituationen
, und zwar unter Inkaufnahme eigener Gefährdung; eine solche Hilfe bzw. ein solcher Schutz, der oft auch als ein Dazwischengehen beschrieben wird (1993, 2023), gilt Opfern jeglicher Form von Gewalt im Alltag, vor allem aber denjenigen, die von (rechts)extremer Gewalt bedroht sind (1994a, 1998, 2003).
Auf dem Weg zum Prestigewort
Eine besondere semantische Profilierung erfährt das Wort in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Fehlende Zivilcourage der Deutschen wird hier als eine der Ursachen für die Herrschaft des NS-Regimes identifiziert (1946, 1948, vgl. auch 1950). Zivilcourage wird dann – im Umkehrschluss – als Tugend beschrieben, die konstitutiv für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft ist (1969, 1997) und die daher besondere Förderung verdient, etwa durch Auszeichnungen von Menschen, die sich entsprechend hervorgetan haben (1974, 2005b). Zivilcourage hat sich seit der Nachkriegszeit somit zu einem Prestigewort entwickelt (s. ferner 2005a, 2016).
Bismarck als Schöpfer?
Die Bildung Zivilcourage wird allgemein Otto von Bismarck zugeschrieben: Dieser habe den Ausdruck zuerst verwendet und damit in die deutsche Sprache eingeführt (vgl. 1DWB 15, 1728DWDS sowie die Belege von 1906 und 1946, in denen ausdrücklich auf Bismarck als Urheber verwiesen wird). Die einschlägige Äußerung Bismarcks (1864) ist in einer von Robert von Keudell angefertigten Niederschrift einer im Sommer 1864 gehörten Erzählung zu finden, die sich auf eine Rede im Vereinigten Preußischen Landtag vom 17. Mai 1847 und einen dadurch ausgelösten Tumult bezieht.1) Keudells Erinnerungsbuch erschien allerdings erst im Jahr 1901. In Bismarcks eigener Schilderung der betreffenden Landtagssitzung, die in seinen 1898 publizierten Gedanken und Erinnerungen2) enthalten ist, tritt das Wort Zivilcourage nicht auf. In jedem Fall ist der Ausdruck bereits für die 1860/1870er Jahre zu belegen, ohne dass ein Bezug zu Bismarck vorläge, vgl. nochmals die Belege 1863, 1876).
Wenn auch Bismarck also kaum als Schöpfer des Ausdrucks anzusehen ist, so wird dessen Verbreitung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne Zweifel wesentlich durch diesen beeinflusst. Zur weiteren Bekanntheit des Ausdrucks dürfte vor allem dessen Aufnahme in Büchmanns Geflügelte Worte entscheidend beigetragen haben (ab der 27. Auflage von 1925).3)
Die Wortbildung und die Frage der Lehnübersetzung
Im Hinblick auf seine Wortbildung stellt sich Zivilcourage zu den im 19. Jahrhundert zahlreich vorhandenen Bildungen mit einem Erstglied Zivil-, wie sie auch in Zivilkleidung, Zivilgesinnung usw. vorliegen (vgl. 1DWB 15, 1269DWDS). Allerdings kommt auch das französische courage civil als Vorbild in Betracht (vgl. TLFi unter courage). Die Fügung ist im Französischen bereits für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu belegen, und zwar mit einer Bedeutung, die der des deutschen Wortes weitgehend entspricht. So akzentuiert die französische Verbindung sowohl den Gegensatz zum Mut auf dem Schlachtfeld als auch die hohe gesellschaftliche Bedeutung des Konzepts. Courage civil kann bereits hier Züge eines Prestigewortes tragen, zumindest nach Ausweis einer dieser Verbindung gewidmeten Preisschrift von 1828.
Anmerkungen
1) Keudell, Robert von: Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872. Berlin/Stutgart 1901.
2) Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1898, Bd. 1, S. 17–18
3) Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Fortgesetzt von Walter Robert-tornow, Konrad Weidling und Eduard Ippel. 27. Aufl. neu bearb. von Bogdan Krieger. Berlin 1925, S. 573.
Literatur
Büchmann 1925 Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Fortgesetzt von Walter Robert-Tornow/Konrad Weidling /Eduard Ippel. 27. Aufl. neu bearbeitet von Bogdan Krieger. Berlin 1925.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Zivilcourage.